Galtungs Gewaltdreieck – Ein Modell zum Verständnis gesellschaftlicher Konflikte

Methodisch liegt der Mediation der Gedanke zugrunde, dass Konflikte durch die Klärung und Abgleichung der verborgenen Interessen gelöst werden können. “Verborgen” sind die Interessen in oder hinter den Positionen, die im (Verbal-)Kampf eingenommen werden (müssen).

Solange jedoch die Parteien nicht bereit sind, warum auch immer, sich über ihre Interessen gemeinsam auseinanderzusetzen, sondern sich regelrecht oder auch regelwidrig zu bekriegen, bedarf es für ein konstruktives Konfliktmanagement eines guten Verständnisses darüber, welche Dynamik dem Bekämpfen, Bekriegen und der Gewaltausbrüche zugrunde liegt.  Johan Galtungs Dreieck der Gewalt ist dafür ein hilfreiches und erprobtes Modell zu Formen von Gewalt.

Noch immer können wir in den täglichen Nachrichten “erleben”, dass gerade in internationalen Beziehungen nicht selten Gewalt und Krieg maßgebende Konfliktbearbeitungsmethoden sind. Und dennoch; dieses “noch immer” ist ein Ausdruck historisch begründbaren Optimismus’, weil diese Gewalt relativ zur Bevölkerungszahl stetig zurückging! Ob dieser Rückgang beibehalten wird, ist offen, aber doch vieles spricht dafür. Tatsächlich sinkt das Gewaltaufkommen, auch die staatlich initiierte Gewalt nimmt kontinuierlich ab und wird stetig mehr begrenzt. Auch wenn es aktuell nicht so scheint, dass gewaltsame Konflikte und Gewalt generell zurückgeht, ist es dennoch genau so. Unserem  nachrichtengeprägten Verständnis solcher Erscheinungen mag das schwer einleuchten, aber dem liegt auch ein äußerst begrenzter Zeit- und Mentalhorizont zugrunde.

Gleichwohl, Krieg und zwischenstaatliche Gewalt bleiben ein akutes und globales Problem, um dessen Milderung und Lösung sich der norwegische Soziologe Johan Galtung, ein Begründer der internationalen Friedens- und Konfliktforschung, hohe Verdienste erworben hat. Um ihn und sein in den späten sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts entstandenes Konfliktlösungsmodell soll es in diesem Blogbeitrag gehen. Dieses Modell setzt sich mit der Entstehung und der Dynamik von internationalen Konflikten sowie verschiedenen Formen von Gewalt auseinander.

 

Galtung Gewaltdreieck

Johan Galtung auf dem Zweiten Gemeinsamen Mediationskongress in Ludwigsburg 2014

 

In seinem Gewaltdreieck beschreibt Galtung die Hauptaspekte eines Konflikts als attitudes (Einstellungen), behaviors (Verhalten) und contradictions (Widersprüche). Ursprünglich diente das Modell der Anwendung auf Kriegssituationen, es kann allerdings ebenso auf andere Konfliktarten angewandt werden, wie zum Beispiel auf Gewalt in Familien und Diskriminierungen jeglicher Art.

Attitudes, Behavior und Contradiction

In Galtung’s Gewaltdreieck verbinden sich die drei Elemente attitudes, behavior und contradiction zu einem konsistenten Modell, das die vorhandenen Wechselwirkungen verstehbar machen will.

Attitudes beschreiben den Teil des Konflikt, der sich aus Annahmen, Wahrnehmungen und Emotionen, die eine Konfliktpartei über die andere haben mag, speist. Eine besonders bedeutsame Eskalationsquelle ist z.B. bei aufkommenden Konflikten die mangelhafte Bemühung, Verständnis für die andere Seite aufzubringen, ihr Gutes oder zumindest nachvollziehbare Motive zuzutrauen. Stattdessen wird  aus den negativen Wirkungen auf die Motive geschlossen, die freilich in diesem Licht auch negativ erscheinen (müssen). Das ist einfach, vor allem aber “logisch” und deshalb “richtig”. Das Denken und Einschätzen aus mehreren, sich auch zunächst widersprechenden Perspektiven ist daher ein wichtige Kompetenz bei der Konfliktanalyse. Letztlich widersprechen sich auch nicht die Perspektiven, sondern die Schlüsse, die aus diesen Perspektiven gezogen werden können. Diese Schlüsse freilich, sind unser Werk, können wir beeinflussen und deshalb auch anders treffen. Nach Galtung jedenfalls, sind die Attitudes für die “kulturelle Gewalt” verantwortlich.
Behaviors beschreiben den Teil des Konflikts, durch den der Konflikt wahrnehmbar und spürbar wird, kennzeichnen seinen verbalen und physischen Ausdruck. Sie sind sichtbar und nach Galtung für “direkte Gewalt” verantwortlich.

Contradictions sind schlussendlich die eigentliche Ursache des Konflikts: Sie stehen für die Kollisionen der Konfliktparteien, die wechselseitig wahrgenommen werden und eigentlich erst zum Konflikt geführt haben. Die contradiction ist somit für Galtung die Wurzel des Konflikts, sie verursacht die gewalttätigen behaviors. Nach Galtung liegen contradictions häufig in der strukturellen Gewalt begründet.

Formen von Gewalt – kulturelle, strukturelle und direkte Gewalt

Neben den drei Kernbegriffen attitude, behavior und contradiction stellt Galtung die Begriffe der kulturellen, strukturellen und direkten Gewalt in den Fokus seines Modells, um Ansätze für die Konfliktbearbeitung zu finden. Hierzu äußert er sich folgendermaßen:

„Die sichtbaren Auswirkungen direkter Gewalt sind bekannt: Die Getöteten, die Verwundeten, die Verschleppten, der materielle Schaden, alle zunehmend die Zivilbevölkerung betreffend. Aber die unsichtbaren Auswirkungen mögen sogar noch teuflischer sein: Direkte Gewalt verfestigt strukturelle und kulturelle Gewalt.“ 

(Johann Galtung: Violence, War, and Their Impact: On Visible and Invisible Effects of Violence, Polylog: Forum for Intercultural Philosophy 5, 2004; Übersetzung des Verfassers.)

Galtung differenziert zwischen drei Formen von Gewalt.

Direkte Gewalt wird von einem konkreten Akteur ausgeübt, ist beobachtbar. Direkte Gewalt flammt in physischen und verbalen Formen auf, ist strafrechtlich relevant und unterliegt Rechtfertigungen. Klassische direkte Gewaltausübungen sind Tötung, Schläge, Folter oder Vergewaltigung. Aber auch Beleidigung oder sonstige Herabsetzungen anderer stellen eine mittlerweile anerkannte Form der direkten Gewalt dar. Nach Galtung liegen die Gründe für das Aufkommen von direkter Gewalt in dem Vorhandensein struktureller und kultureller Gewalt.

Diese Konzeption von Galtung korrespondiert mit der Vorstellung, dass derartige Gewaltausübung nicht den Konflikt als solchen darstellt, sondern Versuche bildet, Konflikte zu lösen, wenn auch auf unrühmlichen oder verwerflichen Wegen.

Strukturelle Gewalt ist von direkter Gewalt insofern abzugrenzen, als dass sie von keinem konkreten Akteur ausgeht. Strukturelle Gewalt ist z.B. nicht direkt zurechenbar oder daher strafrechtlich nicht “messbar”. Vielmehr zeigt sie sich in gesellschaftlichen und globalen…nun ja…wie lässt es sich anders beschreiben…als tautologisch…Strukturen, Normen und Werten. Strukturelle Gewalt zeigt sich etwa in ungleichen Bildungschancen, in unterschiedlich beschränkten politischen Mitwirkungsmöglichkeiten und rechtlichen Benachteiligungen bestimmter Bevölkerungsgruppen. Erkennbar wird strukturelle Gewalt auch im beschränkten Zugang zu Waren und Ressourcen bestimmter Bevölkerungsgruppen. Strukturelle Gewalt liegt vor, wenn diese Ungleichheiten den sozialen, politischen und wirtschaftlichen Systemen inhärent sind, systematisch aufscheinen und zugleich in diesen begründet liegen.

Beispielhaft für strukturelle Gewalt ist die messbare Tatsache, dass Arme “eher” Sterben als Reiche. Das zeigt sich nicht unbedingt am Einzelfall (“Und was hat ihm sein Reichtum genützt?! Nüscht, der Krebs hat ihn dennoch dahingerafft…!). Es zeigt sich aber deutlich im “Großen Bild”. Das lässt sich aber nur mit Statistik angemessen erfassen. Und jeder von uns kennt die abwertenden Reaktionen, wenn davon die Rede ist.) 

Kulturelle Gewalt wiederum speist sich aus den Einstellungen der Individuen bzw. deren Dynamik in Gruppen und Gesellschaften. Individuelle Einstellungen entstehen maßgebend im Rahmen der individuellen, aber eben gesellschaftlich gerahmten Sozialisierung aller. Bei der Sozialisierung, so Galtung, entstehen Konflikte zwischen dem Selbst und dem Gegenüber. Dies kann darin resultieren, dass Aspekte der Kultur wie Religion, Sprache oder Wissenschaft dazu instrumentalisiert werden, das Vorhandensein direkter Gewalt zu rechtfertigen. Anpassungsprozesse werden gewaltvoll unterstützt. Aus dieser soziologischen Perspektive bedeutet Kulturelle Gewalt die Ursache dafür, dass wir Faktoren nicht bewusst sind, die uns direkte und strukturelle Gewalt nicht erkennen oder zumindest rechtfertigen lassen.
Man mag sich an dieser Stelle der Debatte stellen, ob jegliche Form von Gewalt unterbunden werden könne oder zumindest unerwünscht sein sollte. Denn wir gelangen mit diesen Definitionen recht weit in das Feld ideologischer Grabenkämpfe (Erziehungsweisen, Ordnungsvorstellungen etc.), und könnten schnell versucht sein, die gesamte Thematik zu vewerfen. Das wäre tatsächlich schade und würde nicht nur bedeuten, das sprichwörtliche Kind mit dem Bade auszuschütten, sondern gleich die ganz Wanne wegzuwerfen. Dann müssten wir wirklich im Schmutz der Gewalt stecken bleiben.

Wir können uns wirklich noch keine Welt vorstellen, in der jegliche Gewalt geächtet und unterlassen wird. Zu fremd und geradezu utopisch nimmt sich das aus, was sich da im Kopf zu einem konsistenten Bild zusammensetzen will. Aber es erschien vielen unter uns noch vor gar nicht langer Zeit völlig absurd, dass es gesellschaftlich geächtet und staatlich verboten sein solle, die eigenen Kinder zu schlagen, “um sie gut auf den Weg zu bringen”. Und vielleicht fragen sich einige Leser_inen auch jetzt noch, ob das wirklich stimmt mit dem strafrechtlich bewährten Verbot. Schließlich bedeutet das nicht nur die schöne Vorstellung der Kinderperspektive, dass “ich nicht geschlagen werden darf”. Es bedeutet  auch die gar nicht schöne Vorstellung der Erwachsenenperspektive, dass “ich von meinem Kind mit Gewalt daran gehindert werden darf, sollte ich einmal die Hand erheben”. Soweit kann’s dann wohl doch nicht gehen, oder etwa doch?! Nun,  auch Kindern und Jugendlichen steht – mit dem Verbot korrespondierend – das Notwehrrecht nach § 32 StGB gegen die Eltern zu.

Erkennbar wird mit dem Modell von Galtung jedenfalls, dass direkte Gewalt die anschaulichste Form der Gewaltausübung darstellt. Deshalb kann sie auch am schnellsten identifiziert und bekämpft werden. Strukturelle Gewalt hingegen ist meist auf den ersten Blick nicht erkennbar, da sie keinen direkten Akteur (Verursacher, Schuldigen) erkennen lässt. Diese beiden Faktoren können dazu führen, dass sowohl von struktureller als auch von kultureller Gewalt eine hohe Gefährlichkeit = Beeinflussung ausgeht, da sie unterhalb des gesellschaftlichen Radars verläuft und sich den gesellschaftlichen Debatten und “bewussten Veränderungsprozessen” entziehen mag.

Alle Gewaltformen stehen in einem sich gegenseitig bedingenden Verhältnis zueinander. Nach Galtung führt strukturelle Gewalt zu direkter Gewalt und kann durch kulturelle Gewalt gerechtfertigt werden. Alle Gewaltformen interagieren miteinander in einem dynamischen Prozess. Fehlt eine der Gewaltformen, liegt kein offener Konflikt, sondern ein latenter Konflikt vor.

 Lösungsansätze

Die Lösungsmöglichkeiten können hier – aufgrund unserer aktuellen Abstraktionshöhe – nur angerissen werden.
Direkte Gewalt kann bekämpft werden, weil das konkrete Verhalten als Bezugspunkt dient. Dies ist durch peace-keeping Prozesse möglich. Man spricht dann von negativem Frieden, da es um die Abwesenheit von direkter Gewalt geht. Das Rechtssystem und seine Durchsetzung dient der Abwesenheit von Gewalt, schafft Sicherheit und Ordnung.

Um struktureller Gewalt entgegenzuwirken, müssen die strukturellen contradictions bekämpft werden. Dies ist durch peace-building Prozesse möglich. Verläuft dies erfolgsversprechend, spricht man von positivem Frieden, da es nicht allein um die Abwesenheit von direkter Gewalt geht, sondern um die Abwesenheit struktureller Gewalt in allen Gesellschaftsbereichen.

Um kulturelle Gewalt zu bekämpfen, müssen die attitudes geändert werden. Hier spricht man von peace-making Prozessen. Auch hier wird von einem positiven Frieden gesprochen. Dabei geht es darum, gleichberechtigte Machtverhältnisse zu schaffen, die stark genug sind, um zukünftige Konflikte zu vermeiden. Mit derlei Machtgleichgewichten gibt es in der europäischen Geschichte durchaus optimistische Erfahrungen, die sich in der staatsrechtlichen Formel der checks and balances an sich bereits umfassendes Gehör verschafft haben. Häufig spielt dabei der konstruktive Dialog eine entscheidende Rolle, indem innerhalb einer Gesellschaft oder zwischen Konfliktparteien Vereinbarungen über Themen getroffen werden, die zuvor zu Konflikten geführt haben. Peace-making hat zum Ziel, die Aussöhnung und ein gegenseitiges Verständnis untereinander zu erreichen.

Hierher gehört die Mediation, die als Konfliktbearbeitungsverfahren peace-making-Absprachen ermöglicht, die sich in den Dialogen und kooperativen Verhandlungsprozessen herausschälen mögen.

Resümee

Nach Galtung können Konflikte positive Auswirkungen haben, wenn sie zu sozialem Wandel und somit zu positivem Frieden führen. Ob dies geschieht, hängt davon ab, ob ein konstruktives Konfliktmanagement bzw. eine Konflikttransformation stattfindet, die zu tragfähigen Lösungen führen.
Dies kann man auch auf die Mediation übertragen: hier wird an der attitude angesetzt. Eine Auseinandersetzung in Form eines Dialogs kann dazu führen, dass die strukturellen Hintergründe (contradiction) des Konflikts verändert werden. Dies kann seinerseits dazu führen, dass sich die Verhaltensweisen (behavior) der Konfliktparteien ändern und der Konflikt so auf allen drei Ebenen transformiert wird. Soweit die Theorie Galtungs, die er aus seinen praktischen Erfahrungen mit internationalen Konflikten und Krisen herausgearbeitet hat.