Die mathematisch-technologische Digitalrevolution

Praxis der maschinellen Singularisierung

Institutsentwürfe

Neue Konzepte und Modelle

Institutsentwürfe 2021

Kultursoziologische Einsichten und Konzepte nach Andreas Reckwitz

I. Einleitung

Die Postmoderne (ab ca. 1970er) verdrängt im Wege der Singularisierung und Kulturalisierung die organisierte Moderne wie sie sich seit den 1920er Jahren in den USA und in Westeuropa ausgeprägt hatte. Diese von Reckwitz konstatierte Singularisierung zeigt sich in fünf Einheiten – und zwar in Objekte (Artefakte, v.a. Gegenstände), bei Subjekten, in Räumlichkeiten (Orte, Städte, Naturgegenden etc.) ebenso wie in Zeitlichkeiten (Events etc.) und bei Kollektiven. Sie werden jeweils durch soziale Praktiken aktiviert und beansprucht. 

Reckwitz betont drei Singularisierungstreiber: die soziokulturelle Authentizitätsrevolution, die postindustrielle Kulturkapitalismusrevolution und die mathematisch-technologische Digitalrevolution. Im Folgenden geht es um die letztgenannte Revolution. 

Die mathematisch-fundierte Technikrevolution (Digitale Transformation) verändert das Verhältnis Mensch und Maschine. Die Maschinen der digitalen Revolution singularisieren und kulturalisieren, statt die Routinen der sozialen Logik des Allgemeinen zu vertiefen; sie provozieren und produzieren vor allem individuelle und soziale Muster von Einzigartigkeiten. In diesem Sinne performen die digitalisierenden Maschinen nicht einfach, sondern gestalten, ermöglichen und beobachten Performanzen des Besonderen.

II. Stoßrichtung der Digitalen Transformation 

Die Digitale Transformation wälzt das soziale Leben um, keineswegs nur das Arbeits- und Organisationsleben, sondern insgesamt das Sozial- und Individual(er)leben schlechthin. Drei Stoßrichtungen sind erkennbar:

  • (Muster-)Erkennungsmaschine: Kern der Digitalen Transformation ist es, Daten und Informationen zu generieren, aufzubereiten und sichtbar zu machen, was insgesamt wiederum auf das menschliche Handeln und Entscheiden zurückwirkt. Handlung und Wirkung, Messung und Feedback sowie Anpassung und Beeinflussung können praktisch in Echtzeit verfolgt werden. Bereits die Erwartung von Messung und Feedback beeinflusst die Ausgangshandlung. 
  • Katastrophenmaschine: Für die bisher etablierten gesellschaftlichen Routinen stellt die Digitale Transformation eine Katastrophe (Nasehi) dar – ganz ähnlich dem Buchdruck für das mittelalterlich Tradierte.
  • Kulturmaschine: Die Technologien des digitalen Netzwerks unterstützen die Logik des Besonderen, indem sie singularisieren, weil sie die Einzigartigkeiten provozieren und etablieren. Sichtbarkeit durch Performanz etabliert sich flächendeckend. Das ist die grundstürzende Bruchstelle in den Technologien des 1. und 2. Maschinenzeitalters.

III. Technologien des Digitalen Netzwerkes

Die Technologien einer Gesellschaft determinieren Leben, Arbeiten, Lieben, Sorgen nicht einfach, sondern beeinflussen, prägen, ermöglichen und verhindern aber auch diese Teilbereiche. Die Umwälzungen geschehen nicht einfach durch die digital-technologische Angebotsstruktur, sondern sind Folge der Annahme durch die gesellschaftlichen Teile. Die Technik des 1. Maschinenzeitalters (Brynjolfsson/McAfee), die in der Logik des Allgemeinen, unsere und tierische Muskelkraft potenzierte und uns das industrielle Zeitalter ermöglichte, wird abgelöst von einer Technik, die unsere Geisteskräfte potenziert, v.a. aber in der Logik des Besonderen kulturalisiert und singularisiert. 

An diesem Punkt entspinnt sich der Diskurs um Fortschritts- und Verfallsnarrativen.

  • Algorithmisch-prozessierendes Computing – Computerisierung  (seit 1940er Jahre)
  • Digitalisiert-mediale Formate – Digitalisierung (seit 1960er Jahre)
  • Kommunikationsnetzwerk namens Internet – Vernetzung (seit 1990er Jahre)

Der Bruch im technologischen Einschlag für das Soziale zeigt sich darin, dass industrialisierende Technik die Welt vermaß, formalisierte, mechanisierte und standardisierte, während die digitale Technologie die (soziale!) Welt auf der verdeckten Innenseite dieses Programm fortführt, aber auf der sichtbaren Außenseite (Bildschirm) die Performanzen singularisiert. Die industrialisierende Technik trieb funktionale Rationalisierung und Versachlichung voran, die digitale Technik generiert gesellschaftliche Kulturalisierung und Affektintensivierung, die, wenn man so will, freilich auf die psychoanalytisch-fundierte, anti-industrielle Gegenbewegung der (Humanistischen) Psychologisierung aufsatteln konnte, die ihrerseits ohnehin ein tieferes Fühlen von Beginn angesteuert hat. Deshalb – so scheint es zumindest – begrüßen die kulturelle Gegenbewegungen die digitalen Techniken vor allem im Angesicht der gesellschaftlichen Affizierungs- und Kulturalisierungstendenzen.

IV. Praxis der maschinellen Singularisierung

Maschinelle Singularisierung erfolgt durch die Provokation zur Performance. Zwar sortiert und funktionalisiert die Maschine im Hintergrund automatisch, aber ihre sichtbaren Resultate folgen nicht der Logik des Allgemeinen, sondern der Logik des Besonderen von kulturell aufgeladenen Gütern.

Sowohl der Angestellte soll nicht mehr konformistisch agieren, sondern affizieren, begeistern und begeistert sein, als auch Industrieprodukte sollen Losgröße 1 verkörpern; auch sollen Städte, Stadtbezirke, Ehepartner und Kinder einzigartig sein (was sie sind, aber auch stets zeigen müssen!)

Während in der Logik des Allgemeinen die maßgebend sozialen Praktiken Arbeit und Interaktion waren, sind es nunmehr in einer singularistischen Gesellschaft, die der Logik des Besonderen folgt, die Performativität, die sich stets affizierend ausnimmt. 

Performanz zählt. Soziales Tun gerät per se zu performendem Tun. Wir arbeiten und interagieren nicht mehr nur, um Geld zu verdienen, sondern wir performen, präsentieren uns – und was wir tun, geschieht stets auf der Bühne des eigenen Lebens, das seine Beobachter in den (sozialen) Medien hat und potenziell von beliebig vielen Dritten beobachtet, und befeedbackt wird, also bewertet, valorisiert. Das performative Moment ist markant für die singularistische Gesellschaft.

Performierendes Handeln unterscheidet sich vom rationalen Handeln durch seinen Affektgehalt, seine affizierende Einwirkung auf die Beteiligten. Im kühlen Modus rationalen Handelns sind Affekte weitestgehend ausgeschlossen oder zumindest unerwünscht. Ganz anders im Präsentationsmodus, im Storytelling, wo Emotionalisierung nötig ist. Alles Tun muss die Welt ein Stückchen besser machen, wenn man darüber reden will. Drunter geht’s nicht, drunter ist langweilig.

Exkurs zur (kultur-)soziologischen Methodik

Kultursoziologische Praxeologie (Praxistheorie)
Blogbeitrag: Konzepte zur historischen Einordnung der Digitalen Transformation
  • Brynjolfsson E./McAfee, A.: The Second Machine Age, München 2014.
  • Burckhardt, M.: Eine kurze Geschichte der Digitalisierung, München 2018.
  • ders.: Philosophie der Maschine, Berlin 2019.
  • A. Nasehi: Muster, München 2019. 
  • Floridi, L.: Die vierte Revolution, Berlin 2015.
  • Gugerli, D.: Wie die Welt in den Computer kam, Ffm 2018
  • Isaccson, W.: Innovators, 2018.
  • Reckwitz, A.: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 32, Heft 4, August 2003, S. 282-301.
  • Reckwitz, A.: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderen zur Postmoderne, überarbeitete Neuauflage der Originalauflage von 2006; 2020.
  • Reckwitz, A.: Kreativität und soziale Praxis. Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie, Bielefeld 2016.
  • Reckwitz, A.: Die Gesellschaft der Singularitäten, Berlin 2017.
  • Reckwitz, A.: Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019.
  • Schäfer, H.: Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm, Bielefeld 2016.
  • Zuboff, Sh.: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, München 2018.