Beitrag: Die Besonderheiten der Organisationsmediation in der kulturalisierten Wirtschafts- und Arbeitswelt

in: Kongress-Reader DGTA 2021 (online-Kongress)

Dr. Sascha Weigel

 Abstract

Im Artikel wird die Originalität der Mediation im Kontext drittgestützter Konfliktbearbeitung herausgearbeitet, namentlich die Möglichkeit, die imaginierte Zukunft der Beteiligten als maßgeblich für die Konfliktentscheidung zu nutzen. Dieses Alleinstellungsmerkmal der Mediation macht das Verfahren in einer kulturalisierten, ästhetisierten Ökonomie besonders interessant. Denn die postmoderne Ökonomie ist gleichfalls auf Imaginationen angewiesen und beansprucht die Zukunftsvorstellungen ebenso. Die daraus folgenden Konsequenzen für die Mediation und ihre Anwendungen in Organisationen werden abschließend aufgezeigt.

Auszüge:

In der Mediation ist es für die Drittperson ihrerseits keineswegs ausgeschlossen, mit der Vergangenheit zu arbeiten, z.B. für eine Entschuldigung für empfundene „Ungerechtigkeiten“. Zuweilen ist das auch erforderlich, wenn nicht gar nötig für die Beteiligten, um ihren Konflikt angemessen zu bearbeiten. Auch mag es erforderlich sein, gegenwartsbezogene, ganz praktische Kompromisse einzugehen. Doch erst die kreative Arbeit im Anschluss an einen gemeinsamen und visionären Blick in die vorstellbare Zukunft lässt Mediation zu Mediation werden – und führt zu mehr als bloßer Vermittlung.

Zukunft als Reflexions- und Entscheidungskritierium

Die Zukunft dient als Orientierungs- und als Anziehungspunkt für die Beteiligten, sich aus der gegenwärtigen Situation heraus bzw. hervor zu arbeiten. Diese Konfliktbearbeitung auf der Basis der Zukunftsideen und -vorstellungen ist eine moderne Kulturleistung des Menschen. Das heißt, dass eine Gesellschaft gerade deshalb als modern angesehen werden kann, weil ihre Mitglieder generell und umfänglich derartig zukunftsorientiert denken und handeln können. Hinzu kommt, dass diese Zukunftsorientierung zur Idee des Mehrwerts und des Fortschritts führt. Wenn der Morgen nicht mehr so sein wird wie das Heute und Gestern, dann ist das Leben nicht mehr ein ewig dauernder Kreislauf des Immerselben, sondern stellt einen Pfeil dar, dessen Spitze Richtung Fortschritt zeigt. 

Mediation, dies als kleiner Vorgriff, ermöglicht strukturell nicht nur ausgleichs- und kompromissbezogene Konfliktbearbeitungsmaßnahmen und damit die Beilegung des Konflikts. Nein, die Originalität der Mediation (ver-)führt regelrecht dazu, zukunftsorientiert und imaginierend nach dem Mehrwert zu fragen, das völlig Neue anzustreben, das bisher in dieser Beziehung nicht realisiert wurde und einen Treiber des Konflikts darstellt. Bitte nicht missverstehen, es geht dabei nicht immer und ausschließlich um einen materiellen Mehrwert, sondern um einen kulturellen Mehrwert für die Beteiligten, der freilich auch materiell ausfallen darf. Damit bietet es sich geradewegs der modernen Wirtschafts- und Arbeitskultur als Mittel der Wahl zur Konfliktbearbeitung an. Denn sozial- und kulturhistorisch ist es die Wirtschafts- und Arbeitswelt gewesen, die vorbildhaft zukunfts- und mehrwertorientiert sowie mehrwertrealisierend praktiziert wurde.

Erweiterte Erwartungshorizonte in der moderne Wirtschafts- und Arbeitswelt

Die moderne, sich seit dem 16. Jahrhundert kapitalisierende (nicht bloß industrialisierende!) Wirtschaftsweise, ist dadurch gekennzeichnet, dass der Zukunft , das heißt den Vorstellungsbildern von der Zukunft, eine stetig mehr tragende Rolle zugewiesen wurde. Die mentale Erweiterung des Vorstellungs- und Denkhorizonts „in eine unbekannte wirtschaftliche Zukunft“ (Becker) ist der Grundpfeiler investierenden und auf Mehrwert zielenden Wirtschaftens. 

Es ist der Kapitalismus als Wirtschaftssystem, in dem „die Akteure ihre Aktivitäten auf eine Zukunft ausrichten, die sie als offen und ungewiss wahrnehmen, …die sowohl unvorhersehbare Chancen als auch nicht kalkulierbare Risiken birgt“ (Becker 2019, 12 f.).

Dass wir Menschen unsere (wirtschaftlichen) Aktivitäten in eine Zukunft hinein entwerfen können, stellt eine moderne Kulturleistung dar, die es ermöglicht, unseren Erwartungshorizont zu strukturieren und in einer Welt unendlicher Offenheit unsere Lage zu beurteilen und Entscheidungen zu treffen (Hölscher 2016).

Kulturalisierung und Singularisierung in der postindustriellen Wirtschaftswelt

Die zweite Besonderheit des modernen Wirtschaftens betrifft ihren postmodernen Charakter (zum Folgenden ausführlich: Reckwitz 2018, 2020, 2012; Taylor 1996). Die Wirtschaftsgüter der organisierten Moderne (1920er-1970er) waren vor allem funktionale, standardisierte Produkte einer voll entwickelten Industriegesellschaft zur Steigerung des Lebensstandards, die dem sozial normierten Leben der nivellierten Mittelstandsgesellschaft zu entsprechen hatten. Sie sollten alles in allem nicht extravagant, außerordentlich oder ungewöhnlich sein, sondern geradewegs, wenn auch auf einem hohen Level, standardisiert, ordnungsgemäß und dem sozialen Niveau des Trägers angemessen daherkommen. Allein in gegenkulturellen Bewegungen und Branchen war das außerordentliche, zuweilen revolutionäre Element erwünscht und akzeptiert. Diese Gegenkulturen – zunächst in der Jugendkultur der 1960er Jahre verwurzelt, immer schon in der Kunstszene zu Hause, sodann in der Werbe- und Modebranche sich ausbreitend – sorgten zusammen mit der Bildungsrevolution und aufkommenden digitalen Transformation seit den 1970er Jahren für den großen gesellschaftlichen Wandel. Nun lief der individuelle Lebensstil dem nivellierten Lebensstandard den Rang ab. Autonomie- und Authentizitätsgebote führen seither dazu, dass Menschen und Gruppen einzigartig sein wollen, außergewöhnlich, keinesfalls (stink-)normal. Und es ist die kapitalistische Wirtschaft, die es verstanden hat, diesem Bedürfnis zu dienen und es zu fördern, indem sie ihre Produkte „kulturalisiert“. Erst dadurch werden nicht mehr nur Küchen, Autos und Telefone verkauft, sondern Lebensgefühle, Symbole und Marken individueller Lebensentwürfe; kurz: Affekt-Güter.

Beide Aspekte sind für die Konfliktbearbeitung in der postmodernen Lebens- und Arbeitswelt von Bedeutung. Sie lassen erahnen, in welchem Anwendungsfeld Mediation praktiziert wird, wenn sie in und für Organisationen die Konfliktpotenziale passend zu bearbeiten versucht.

3. Konsequenzen für die Mediation

a) Mediation im dreieckigen Viereck

b) Organisation nimmt am Mediationstisch platz

c) Intensivierte Prüfung der Mediationsgeeignetheit

d) Kommunikationsplattform, Kooperationsprüfstand und Kreativitätswerkstatt

e) Zielstellung von Organisationsmediation: Arbeitsfähigkeit

d) Ungewissheitsgewissheit

vollständiges Literaturverzeichnis zum Aufsatz:

  • Becker, J.: Imaginierte Zukunft. Fiktionale Erwartungen und die Dynamik des Kapitalismus, Berlin 2018.
  • Bischoff, K.: Über den Einfluss der Strategie eines Unternehmens auf die Konfliktdynamik in Wirtschaftsmediationen, in: Konfliktmanagement in der Wirtschaft. Ansätze, Modelle, Systeme. hrsg. von Gläßer, U./Kirchhoff, L./Wendenburg,F., Konfliktmanagement in der Wirtschaft, Baden Baden 2014, S. 439 – 456, S. 444 ff..
  • English, F.: Der Dreiecksvertrag (The Three-Cornered Contract), in: Zeitschrift für Transaktionsanalyse in Theorie und Praxis, 1985, S. 106 – 108.
  • Hager, G.: Konflikt und Konsens: Überlegungen zu Sinn, Erscheinung und Ordnung der alternativen Streitschlichtung, Tübingen 2001.
  • Hölscher, L.: Die Entdeckung der Zukunft, Göttingen 2016.
  • Holtwick-Mainzer, A.: Der übermächtige Dritte – eine rechtsvergleichende Untersuchung über den streitschlichtenden und streitentscheidenden Dritten, Berlin 1985.
  • Reckwitz, A.: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderen zur Postmoderne, überarbeitete Neuauflage der Originalauflage von 2006; 2020.
  • Reckwitz, A.: Kreativität und soziale Praxis. Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie, Bielefeld 2016.
  • Reckwitz, A.: Die Gesellschaft der Singularitäten, Berlin 2017.
  • Reinhardt, W. (1999): Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999.
  • Schulze, H. (1999): Staat und Nation in der europäischen Einigung, München 1999.
  • Unberath, H. (2012): Mediationsgesetz. Recht der alternativen Konfliktlösung. Kommentar, hrsg. von Unberath, H./ Greger, R., München 2012.
  • Weigel, S.: Warum jetzt Mediation? in: Mediation als Forschungsgegenstand. Auf dem Weg zu einer deutschsprachigen Mediationswissenschaft, 2017; hrsg. von Prof. Dr. K. Kriegel-Schmidt; S. 143 – 159.
  • Weigel, S.: Mediation in und für Organisationen. Organisationsmediation in vukaesken Umwelten. Teil 1 – Für eine strategie- und zukunftsbezogene Konfliktbearbeitung, in: Perspektive Mediation 2/2019.
  • Weigel, S.: Mediation in und für Organisationen. Teil 2 – Funktionswandel und Praxiskonzept, in: Perspektive Mediation 4/2019.