Praktische Diagnose einer Organisationskultur mit dem Kulturdiagnose-Dreieck nach Rolf Balling
Ein Konzept der Transaktionsanalyse zur Orientierung bei der praktischen (Beratungs-)Arbeit mit und in Organisationen.
I. Einleitung
1. Idee einer Organisationskultur
Mit dem Begriff der Organisationskultur versuchen verschiedene Disziplinen – Organisationspsychologie oder Organisationssoziologie etwa – zu erfassen, was als personenübergreifende Muster an Interaktionen und Entscheidungen innerhalb und mit Organisationen zu beobachten ist. Diese Muster betreffen vor allem grundlegende Werte und Leitideen der Organisation.
Entscheidend ist, dass es sich nicht einfach um eine „Beobachtung demokratischer Spielregeln“ handelt, so dass einfach Mehrheitsverhältnisse Musterbegründungen sind. Muster können auch selten auftretende Phänomene betrachten, nicht einfach nur das, was mehrheitlich geschieht oder beobachtet wird.
Zwar könnte der Gedanke auf den ersten Blick gewagt erscheinen, dass Organisationen gleich einem menschlichen Individuum eine „Persönlichkeit“ oder einen eigenen „Charakter“ oder eine vordringliche „Atmosphäre“ entwickeln, die über die Summe der Einzelpersonen hinausreichen soll. Aber in der Tat gibt es ausreichend gesicherte Indizien, dass ein Effekt, dass Menschen in „Gegenwart einer Organisation“ in ihrem Verhalten, Denken und Fühlen maßgebend beeinflusst werden. Für ein soziales Wesen in einem sozialen System, das auf Entscheidungen beruht und hinarbeitet (so die funktionale systemtheoretische Vorstellung einer Organisation) nicht verwunderlich.
So ist auch in der Verhandlungslehre festgestellt worden, dass Menschen das gleiche Spiel mit den gleichen Regeln kooperativer spielen, wenn man ihnen den Hintergrund und Sinn des Spiels als „Kooperationsspiel“ angepriesen hat, als wenn man ihnen sagt, es sei ein Spiel um Wettkampf und kompetitive Strategien. Woran das letztlich liegt und welcher Art die Ursachen sind (neurobiologisch, soziologisch, psychologisch etc.), ist letztlich für unseren Zusammenhang irrelevant und können wir hier dahinstehen lassen.
2. Ideen zur Organisationskultur
Es gibt nun verschiedene Konzepte und Modellierungen zur Organisationskultur. Konzepte, die erläutern, was hineingehört und was nicht, um feststellen zu können, wie die Kultur einer Organisation beschaffen ist. Und Modellierungen, die einen Hinweis darauf geben, mit welchen Methoden diese Kultur beobachtet, gemessen und damit fest-gestellt werden kann.
So stellt sich zum Beispiel Ed Schein die Organisationskultur als ein Muster gemeinsamer Grundannahmen vor, das die Gruppe bzw. das soziale System bei der Bewältigung externer Anpassungsanforderung und interner Integration erlernt hat, das sich bewährt hat und somit als bindend gilt und das daher an Mitglieder als rational und emotional korrekter Ansatz für den Umgang mit diesen Problemen weitergegeben wird. Schein weist darauf hin, dass die Organisationskultur direkte Einflüsse auf die betriebswirtschaftlichen Kennzahlen, die Motivation und Kreativität der Mitarbeiter hat. Für ihn besteht die Organisationskultur jeweils aus drei Ebenen.
Es gibt auf der ersten Ebene Artefakte, die direkt und „objektiv“ beobachtbar sind.
Beispiele: Architektur, Bekleidung, Bürogestaltung, Logo etc.; Rituale, Zeremonien, Geschichten, Legenden, Anekdoten, Sichtbare Organisationstrukturen und -prozesse, Organigramme; Arbeitsabläufe, Dokumente, Aktenablagen, soziale Normen und Regeln
Auf der zweiten Ebene sind die Einstellungen, Werte und Normen angesiedelt, die mittelbar in den Verhaltensweisen der Organisationsmitglieder zum Ausdruck kommen.
Beispiele: Strategien, Verbote, Ziele, Grundsätze, Philosophie (z.B. Qualitätsanspruch, Wertschätzung der Mitarbeiter); latente Orientierungsmuster, die nur halbbewusst sind, Werte und Einstellungen können im Gegensatz zu Grundannahmen stehen;
Auf der dritten Ebene sind die Grundannahmen angesiedelt, die lediglich implizit und unbewusst existieren.
Beispiele: über Wirklichkeit und Wahrheit; über Zeit und Raum; über die menschlichen Natur; über die menschlichen Tätigkeit; über zwischenmenschliche Beziehungen
Schein empfiehlt verschiedene Möglichkeiten, um die Organisationskultur zu erforschen und die einzelnen Schichten zu erhellen:
Empfohlene Methoden: Fragebögen, Sitzungsbeobachtungen, Firmenrundgänge, Einzelgespräche, Dokumentenanalysen und generell Verhaltensbeobachtungen.
Aber das – nur ein kleiner Exkurs, der verhelfen soll, die Basis der Grundannahmen für die Modellierung unserer Vorstellung von Organisationskultur zu verbreitern. Das wird helfen, Ballings Ansatz eines Kulturdiagnose-Dreiecks verständlicher – auch für sich selbst – einzuordnen.
II. Ballings Idee zur Organisationskultur
Nicht wissenschaftliche Erkenntnis,
sondern kommunikative Erregung soll das Modell bieten.
Ballings Ausgangspunkt für das Verständnis der Organisationskultur sind vor allem (und ganz transaktionsanalytisch) die Kommunikationsmuster der Organisationsmitglieder untereinander oder im Kontakt mit Nichtmitgliedern. Hier verwundert es nicht, dass das transaktionsanalytische Kommunikationsmodell in sein Kulturdiagnose-Dreieck eingearbeitet wird. Diese transaktionsanalytischen Muster erweisen sich auch im Organisationskontext als stabil und erstaunlich gleichförmig. Dies gilt selbst dann, wenn einzelne Mitglieder die Organisation verlassen oder ausgetauscht werden.
Dass diese Formen und Inhalte der Kommunikation der Organisationsmitglieder, wie sie die Transaktionsanalyse modelliert hat und damit (immer wieder zu erkennen glaubt), maßgeblich sind, ist das eine. Für Balling zeigen sie sich aber auch in den entsprechenden (Organisations-)Gebäuden sowie im Firmenlogo, den Schriftzügen, den Werbefilmchen, Arbeitsweisen und sonstigen Ritualen der Mitglieder. Hier stellt Balling sein Modell ebenso breit auf wie Schein, auch wenn es ihm als praktizierenden Organisationsberater nicht um ein wissenschaftliches Modell geht, sondern um eine praktische Hilfe für Organisationsmitglieder selbst. Das ist der entscheidende Punkt zum Zugang dieses Modells der Organisationskultur. Daher ist der methodische Ansatz im Ganzen nicht nach wissenschaftlichen Kriterien ausgewählt, sondern für die praktische Arbeit von Organisationsarbeiter*innen. Mit dem Modell des Kulturdiagnose-Dreiecks geht es Balling nicht darum, die Kulturprägung der Organisation zu messen, für Dritte, die Öffentlichkeit etc. sichtbar und verständlich zu machen, sondern für Beteiligte und Betroffene aufzubereiten, um damit in einen konstruktiven Dialog und in eine kritische Diskussion zu kommen. Nicht wissenschaftliche Erkenntnis, sondern kommunikative Erregung soll das Modell bieten.
Welche inhaltliche Themen sind nun geeignet, die Kultur der Organisation zu ergründen?
- Wie werden Probleme und Krisen definiert und angegangen?
- Wie wird Kontakt zu Personen aufgenommen, zu Kund*innen, Personen, die Aktien haben , aber auch zu einzelnen Mitarbeitenden?
- Welche Fehlerkultur wird in der Organisation favorisiert?
- Welche Risiken scheinen in Ordnung zu sein, welche nicht?
- Wie wird mit Misserfolgen umgegangen?
- Wie wird über ehemalige Mitarbeitende oder Chefs, vor allem aber auch über Chefinnen gesprochen? Wie wird Ihr Abschied vollzogen?
- Wie ist das Konfliktmanagement? Wie werden Konflikte bemerkt? Was geschieht dann?
- Was sind die „Lagerfeuer-Geschichten“ des Unternehmens, die Gründungsmythen, die Visionen?
- Wie geht man mit den offiziellen Strukturen um, den Dienstwegen und Dienstwagen, den Vorgaben, den innerbetrieblichen Vorschriften etc.?
Dabei gilt für Balling, dass sich eine Organisationskultur nicht objektiv messen lässt, sondern der Beobachter selbst das Diagnoseinstrument ist. Ganz Praktiker.
III. Ballings Kulturdiagnose-Dreieck einer Organisation
Balling stellt in seiner Kulturdiagnose drei Leitfragen, um der Organisationskultur auf die Spur zu kommen?
Inwieweit fördert die Organisation
1) die Organisation bzw. Organisiertheit der Leistungserstellung?,
2) das Alignment bzw. die emotionale Ausrichtung der Mitglieder?,
3) die Freude und Kreativität bei den Herausforderungen, die sich tagtäglich stellen?
Mit diesen generellen Fragerichtungen, die auf ganz ähnliche Art und Weise wie bei Ed Schein ermittelt werden können, lassen sich die inneren (Vorstellungs-)Bilder anzapfen, die ihrerseits ihre Kulturspuren aufweisen.
1) Das innere Bild einer Maschine, die auf Ordnung und Regelhaftigkeit basiert: Wie ist die Qualität der Konstruktion? Wie ist der Aufbau und der Ablauf der Organisation, welche Regelmäßigkeiten herrschen in welchem Maße vor? Worauf kann ich mich verlassen, egal ob angenehm oder unangenehm?
2) Das innere Bild einer Familie, die verbunden ist, ob sie nun will oder nicht und die Verbindung aus Tradition ein-, aus- und durchhält: Wie ist es um den Zusammenhalt bestellt? Welche Formen der Wertschätzung existieren, welche Rituale? Welches Maß an Fürsorglichkeit existiert zwischen den Mitgliedern untereinander und zur Organisation hin? Wie wird mit Überfürsorglichkeiten umgegangen, wie wird sie erklärt, entschuldigt, geduldet, eingefordert oder kritisiert? Das betrifft vor allem die Frage nach der Differenz draußen/drinnen – welche Unterschiede sind erkennbar?
3) Das innere Bild eines Spielplatzes, der Freude, Freiheit und Spaß verspricht: Wie aufregend ist es in der Organisation? Welche Freiräume gibt es für eigene Projekte? Ist Freude und Spaß erlaubt, welche Atmosphäre wird vermittelt? Wie wird Freude und Spaß gefördert? Inwieweit wird (kindliche) Neugier für professionellen Ehrgeiz angeregt?
Balling rekurriert hier auf die drei funktionellen Ichzustände, wie sie Berne für die Kommunikation beschrieben hat und führt den Gedanken, dass Organisationen eine „eigene Persönlichkeit“ aufweisen, konsequent fort, indem er nicht nur das Kommunikationsmodell, sondern auch das transaktionsanalytische Persönlichkeitsmodell transferiert. Auch in der Transaktionsanalyse wird mitunter davon ausgegangen, dass die Persönlichkeit aus mehreren „Teil-Persönlichkeiten“ bestehe, die in einem „Wettstreit um Wirksamkeit“ stehen.
Dabei soll die Typologie von Organisationen Kontraste verstärken, da eine Organisation von ihren Schattierungen zwischen den Bereichen lebe. Keine Organisation ist nur und ausschließlich einem Typus zuzuordnen. Deshalb gibt es bereichsspezifische Kulturausprägungen: Fertigungsstätten tendieren zur „Maschinenkultur“, Weiterbildungsabteilungen, interne Schulungszentren sind häufig wie große „Spielplätze“, während HR-Abteilungen und Betriebsratsgremien für den „Zusammenhalt“ zuständig zu sein scheinen. Genau in dieser „Feststellung“ unterschiedlicher Kulturausprägungen lässt sich das Modell Ballings auch als ein „postmodernes Kulturmodell“ erkennen. Denn diese „begleitenden Erlaubnisse“ und impliziten Annahmen bzw. Akzeptanzen, dass Organisationen eine solche Diversität von Kulturausprägungen ausmachen und damit unterschiedliche Persönlichkeiten auch in ihr als Mitglieder Platz finden, ist ein postmoderner Zug von Organisationen, der sich vor allem im Kontrast zu Organisationen der sog. „organisierten Moderne“ (Reckwitz) zeigt. In dieser Organisationsära ging es vor allem darum, möglichst maschinell organisiert zu sein, bürokratisch, zergliedert darstellbar in einem Organigramm, bei dem sich Mitglieder nicht um Differenzen bemühten und bemühten sollten, sondern um Gleichförmigkeit, Konformismus und Regelmäßigkeit. So waren auch die Produkte beschaffen, die hergestellt wurden, industrial at it’s best.
Das ist für Balling keineswegs erstrebenswert – und sein Modell beachtet diese Realitäten des beginnenden 21. Jahrhunderts nicht nur, sondern befürwortet das auch: Teams und Organisationen sollen von allen drei Dimensionen stets verschiedene Elemente aufweisen. Die Mischung macht’s. Und erst das Mischungsverhältnis führt zur gemeinsamen, nicht mehr nur organisierten oder organisierbaren Organisationskultur einer Organisation.
Dysfunktionalitäten werden deshalb auch aus Einseitigkeiten und Überbetonungen abgeleitet, nicht aus Kontaminationen und Verwässerungen. Hier zeigt sich auch die durchaus systemtheoretisch fundierte Basisannahme des Modells. Probleme, ach‘ was, Problemdefinitionen von Organisationsmitgliedern müssten schon beachten (und notfalls mit externen Beratungsmaßnahmen angeregt werden), dass die Antworten auf die Leitfragen und abgeleitete Lösungsansätze nicht auf der selben Denk- und Ordnungsebene verhaftet bleiben dürfen: Lösungsansätze für ein Problem aus dem Vorstellungsbild eins, sind eher aus Vorstellungsbildern zwei und drei zu gewinnen.
IV. Konsequenzen und Hinweise für Mediatoren und Beraterinnen
- Das Modell bietet drei Schubladen, um wahrnehmbare Phänomene bereits von der Kontakt- und Auftragsklärungsphase an einzuordnen und einer umfassenderen Diagnose zuzuführen. Dass dabei Unschärfen bestehen bleiben, ist ok.
- Die Kontraste, die bei der Zuordnung zu den drei Schubladen aufkommen und nicht aufgelöst werden sollen, helfen, die Beratung und Vermittlungsarbeit im Folgenden anzureichern und Material für Interventionen zu sammeln.
- Bei aller Differenzierung innerhalb der Organisationsteile, der Bereiche, Abteilungen und zusammenarbeitenden Professionen erlaubt die Zuordnung in der Gesamtschau allerdings auch, ein dominantes Kulturmotiv herauszufiltern und auf bereichsübergreifende Phänomene aufmerksam zu werden.
- Vermeiden Sie einerseits, jeden Konflikt, mit dem Sie es als Mediator*in in Organisationen zu tun haben, als Ausfluss von Kulturstreitigkeiten zu sehen, vor allem wenn die Gefahr dadurch bestehen, dass sich die beteiligten Personen damit aus der Verantwortung genommen sehen könnten. Andererseits hilft das Kulturdiagnose-Dreieck aber auch, Personen in ihrem Überlastungsdrang zu entlasten und klare Konfliktlinien nicht länger als persönliche Problemstellungen zu begreifen. Hier hilft das Kulturdiagnose-Dreieck durchaus Einseitigkeiten und Überbetonungen zu konfrontieren, d.h. Widersprüche innerhalb der Organisation aufzuzeigen und Personen damit zu unterstützen, diese Dinge auch anzusprechen. (Z. B. dass in einem nicht mehr ganz frischem Startup-Unternehmen allmählich auch Struktur und Ordnung einziehen darf und das nicht gleich das Ende der Wachstumsphase, der Frische und Kreativität bedeutet. Mit 30 Mitarbeitenden ist man noch lange kein Bürokratie-Konzern-Ungetüm und darf ganz gelassen auch einen verbindlichen und verlässlichen Prozess aufsetzen und schriftlich fixieren. Und es darf auch einen zweiten und dritten geben usw.).
- Für Mediation in Organisationen dient das Kulturdiagnose-Dreieck vor allem bei der Beratung der internen Auftraggeberpersonen – denn kein Konfliktberater sollte zu schnell die Lösungsidee des Klienten übernehmen, dass Mediation das richtige Instrument ist. Hier gilt es zunächst einmal gut zu beraten und den Auftrag, eine Mediation durchzuführen, als das Ergebnis eines vorgeschalteten Beratungsprozesses zu verstehen. Nicht, dass Mediation als weitere Spielwiese verstanden wird, während es eher um die Durchsetzung von Führungsideen geht – für die eine Mediationsperson in einer Mediation kaum geeignet erscheint.
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