Gastbeitrag:

Aktuelle Chancen und Risiken

für die Mediation aus einer relationalen Perspektive

Gastbeitrag
von Christian Hartwig
Mediator (BM),
Ausbilder Mediation (BM),
Transformativer Mediator (ISCT),
Lehrbeauftragter der HU Berlin

Website:
www.christianhartwig.de

1. Welche Chancen und Risiken bestehen für die Mediation gegenwärtig?

Nicht erst seit der Coronakrise wird deutlich, dass wir in einer sehr konfliktreichen Zeit leben. Gegensätze und Meinungsverschiedenheiten treffen immer heftiger aufeinander und spalten die Menschen in vielen Lebensbereichen, was einen Dialog erschwert bzw. verhindert. Glücklicherweise ist die Mediation als ein Instrument zur Konfliktklärung mittlerweile anerkannt. Daher eröffnet sie die Perspektive, eine neue Vision sozialer Interaktion zu beschreiben. Die Zukunft einer aufkommenden relationalen Vision des gesamten sozialen Lebens kann durch sie erlebbar gemacht werden. Diese Version strebt eine zwischenmenschliche Kommunikation an, bei der die Selbstbestimmung des Einzelnen und die Verantwortung für die Gesellschaft gemeinsam zum Tragen kommen. Die Mediation birgt das Potential, die Sorge um Recht und Gerechtigkeit sowie Fürsorge und Zusammenhalt zu integrieren.

Doch der Umstand, dass Mediation vorwiegend als Instrument zur Problemlösung Anwendung und Verbreitung findet, stellt ein Risiko für unsere geliebte Zunft dar. Solange die Mediator*innen den Konfliktparteien (KP) nicht auch die Verantwortung über den Verlauf des Prozess ermöglichen, wird das Potential der Mediation nicht voll ausgeschöpft. Es entfaltet seine volle Wirkung, wenn KP ein möglichst klares Bild von sich selbst und der Perspektive des Gegenübers erlangen und dann selbstbestimmt die Verantwortung für eine konstruktive Kommunikation übernehmen können.

Solange die Mediator*innen den Konfliktparteien (KP) nicht auch

die Verantwortung über den Verlauf des Prozess ermöglichen,

wird das Potential der Mediation nicht voll ausgeschöpft.

Die berufliche Mediation wird überwiegend als Mittel konzeptualisiert, um Streitenden dabei zu helfen, alle durch den Konflikt betroffenen Interessen und Bedürfnisse zu befriedigen und das Leiden der Parteien bei Streitigkeiten zu reduzieren. Natürlich läßt sich das aus der Entstehungsgeschichte erklären, da das Konzept auf einer individualistischen Weltanschauung beruht, dem vorherrschenden westlichen Verständnis, dass Menschen unabhängige Wesen sind. Wegen ihrer Flexibilität, ihrem informellen Charakter und ihrer Ausrichtung auf Konsensbildung können alle Dimensionen eines Problems angesprochen werden, mit denen die Parteien in Berührung kommen. Der Konflikt wird so zu einem gemeinsamen Problem umdefiniert, wobei die Mediation eine gemeinschaftliche, integrative Problemlösung forciert.

Handlungsempfehlungen für Mediator/innen basieren darauf, Wege zu finden, wie Parteien ihre Bedürfnisse individuell befriedigen können – die sogenannte Win-Win-Lösung. So herrscht noch immer die Ansicht, dass Mediator*innen die Verantwortung für die Steuerung des Prozesses übernehmen sollten, um den Konfliktparteien zu helfen, sich an einem kollaborativen Prozess zu beteiligen, da sie Hilfe bei der Lösung ihrer Probleme benötigen. Tendenziell wird diese Denkweise durch eine stetige Verrechtlichung aus Vorgaben des Mediationsgesetzes und der damit einhergehenden Vereinheitlichung der Praxis- und Ausbildungslandschaft verstärkt.

Die allgegenwärtigen Konflikte, die durch sehr unterschiedliche Weltanschauungen und Werte geprägt sind, zeigen auf, dass ein lösungsorientiertes bzw. direktives Intervenieren zu kurz greift. Die Konfliktlagen der strittigen Parteien sind häufig nicht als Interessengegensätze fassbar. Menschen finden in erster Linie die beeinträchtigenden Effekte von Konflikten als belastend. Wenn sie nach einem destabilisierenden Konflikt die Erfahrung machen können, wieder Fuß zu fassen, sind sie in der Lage, ein neues Gefühl der Stärke und des Selbstbewusstseins sowie einen Zustand der Offenheit und Reaktivität auf andere Sichtweisen zu finden.

Das kennzeichnet die aufkommende relationale Weltanschauung, die Menschen als autonome Wesen betrachtet, die gleichzeitig grundlegend miteinander verbunden sind. Menschliches Wachstum und Lernen finden statt, wenn versucht wird, die eigene Autonomie mit der Aufrechterhaltung positiver Beziehungen zu anderen in Einklang zu bringen. Gerade Konflikte ermöglichen es den Menschen, dieses Gleichgewicht zu optimieren und im Ergebnis neue Erkenntnisse zu gewinnen. Die KP lernen und erleben dadurch, mit Situationen umzugehen, worin die Sichtweise eines anderen von der eigenen abweicht. Die Betrachtung von Unterschieden bringt Licht in den Konflikt. Es gibt ihnen die Gelegenheit, die persönliche Stärke zu entwickeln bzw. wiederzufinden, die sich aus dem erfolgreichen Umgang mit widrigen Umständen ergibt, und die Möglichkeit, andere Sichtweisen anzuerkennen und nachzuvollziehen. Im Ergebnis erlangen die Parteien Selbstvertrauen und die Fähigkeit zur Entscheidung, so dass sie das erreichen, was sie sich aufgrund der veränderten Interaktion wünschen. Wenn dieser wechselseitige Prozess in Gang kommt, ist es nach Ansicht der Vertreter des transformativen Ansatzes auch leichter, eine Lösung zu finden, die dauerhaft ist. Dabei tritt das Streben nach einer Lösung in den Hintergrund, denn sie wird als Folge des individuellen Wachstums ohnehin erwartet. In der Transformativen Mediation geht es also nicht so sehr um die Problemlösung des Einzelfalls, sondern um dauerhafte Lösungen durch persönliches Wachstum und eine Veränderung der Gesellschaft. Der präventive Charakter durch die intendierte Persönlichkeitsentwicklung ermöglicht längerfristige Lernprozesse.

In der transformativen Orientierung sind Konflikte die treibende Kraft in einem Prozess, durch den die Menschen Selbstsicherheit gewinnen und ihre Identität durch Einbindung in dauerhafte soziale Beziehungen, Institutionen und Ideologien verfeinern können.

In der Transformativen Mediation geht es also nicht so sehr um die Problemlösung des Einzelfalls,

sondern um dauerhafte Lösungen

durch persönliches Wachstum und eine Veränderung der Gesellschaft.

2. Was sind meine Empfehlungen?

 

Um den Parteien in Konflikten eine richtige Hilfe zu sein, sollten Streithelfer/innen verstehen, was der Konflikt für die Parteien bedeutet und was sie in ihrer gegenwärtigen Situation als schwierig empfinden. Mediator/innen sollten verstehen, was die KP aus ihrer Sicht gerade durchmacht. Es ist eine Zeit der Veränderung für jeden und jede von uns. Das wissen wir. Wir können als Mediator/innen dazu beitragen, indem wir die Menschen, die zu uns komme dabei unterstützen, ihre Anstrengungen für das Verständnis für die eigene Situation als auch die der anderen KP zu verstehen – wenn sie es so wollen! Wenn wir aufhören den Prozess lenken und Probleme lösen zu wollen, liegt unserer Handeln einer Haltung zu Grunde, die davon ausgeht, das die Hilfesuchenden selbst Verantwortung für den Prozess der Konfliktlösung übernehmen können und das auch wollen.

Statt sich darauf zu konzentrieren, Parteien zur Lösung für ein Problem zu bewegen, sollte Mediator/innen sich darin schulen, den Streitenden im Gespräch zu folgen, um selbstbestimmt Wege zu finden, ihre bitteren Konflikterfahrungen zu überwinden und weiterzumachen. Indem Mediator/innen diese Ausrichtung auf die Konflikttransformation bei ihrer Arbeit beibehalten, können sie die Konfliktparten dabei unterstützen, eine Balance zwischen der eigenen Stärke und der Beziehung mit anderen herzustellen.

Sascha Weigel: Kommentare, Einlassungen, Erwiderungen sind als Debattenbeiträge erwünscht. Gern direkt in die Kommentarfunktion oder als eigenständige redaktionelle Beiträge (mind. 5000 Zeichen).

Unser Roundup-Post 2020: Aktuelle Chancen und Risiken für Mediator*innen

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