INKOVEMA-Podcast „Gut durch die Zeit“

#155 – Die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie mal  war.

Die Zukunft kommt nicht mehr nur auf uns zu, wir schreiten nunmehr durch sie hindurch auch fort.

Im Gespräch mit Prof. em. Lucian Hölscher

Gut durch die Zeit. Der Podcast rund um Mediation, Konflikt-Coaching und Organisationsberatung.

Lucian Hölscher, deutscher Historiker, am 17. August 1948 in München geboren. Er lehrte von 1991 bis 2014 als Professor für Neuere Geschichte und Theorie der Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Autor mehrere Bücher und Artikel zu historischen Themen, darunter v.a. „Die Entdeckung der Zukunft“. Hölschers Forschungsinteressen umfassen die Theorie der historischen Zeit und die Geschichte der Zukunft.

Inhalte:

Als der Pfropfen des Jüngsten Gerichts  sich als einzige Zukunftsaussicht gelöst hatte, begann die zukünftige Zeit für die Irdischen zu laufen und Eile war geboten.

Im Gespräch mit Lucian Hölscher werden die Anfänge der mentalen Revolution, die noch nichts mit Moderner Mediation zu tun hatten, erläutert, die für uns Heutigen fast schon selbstverständlich ist: Eine Vorstellung von der Zukunft, die nicht allein mit der Aussicht auf das Jüngste Gericht rechnet, sondern eine Offenheit (an-)erkennt, deren Auswirkungen atemberaubende Konsequenzen nach sich zog. Vor allem, dass es keine Zeit im Irdischen zu verlieren gibt. Paradox vor allem, weil gerade diese Zeit der offenen Zukunft erst dadurch gewonnen wurde. Die Erfahrung modernen Lebens schlechthin.

Interessant dabei ist nicht nur der Entwicklungsprozess dieses Perspektivenwechsels selbst, sondern sein vorrangiges praktisches Wirkungsfeld: die Wirtschaft des Frühkapitalismus, die auf diesen gewandelten Vorstellungen von der Zukunft aufbaut und einen Perspektivenwechsel einläutete, der ebenso atemberaubende Veränderungen nach sich zog: eine wachsende Wirtschaft, die eine wachsende Gesellschaft erlaubte, ermöglichte und erforderte. Wenn die Zukunft erst einmal gestaltbar erscheint…

Die Vorstellungen von künftigen Zuständen sind Teil gegenwärtiger Entscheidungsprozesse.

Was Mediation in der Lage ist zu eröffnen, ein Gericht aber kaum je, ist, dass die Konfliktentscheidung selbst und direkt mit der Zukunft rechnet, dass die Entscheidung auf Füße gestellt wird, die bereits einen Abdruck in der (vorgestellten) Zukunft hinterlassen haben. Das ist eine strategische Ausrichtung der Konfliktbearbeitung und -entscheidung, die allein nur die Mediation anbietet und Konfliktparteien nutzen können, die sich, weil vertraglich vereinbart, in Mediationen das anvisieren, ausformulieren und aushandeln können. Das unterscheidet im Kern die Mediation von anderen Konfliktbearbeitungsmethoden, wenn sie es denn in der Praxis auch tut.

Mediation will und kann den Kuchen vergrößern und sich nicht nur einfach gut beim Backen unterhalten.

Literatur:

Die Zusammenhänge dieser veränderten Zukunftsvorstellungen zur Mediation und Konfliktbearbeitung habe ich bereits vor Jahren in zwei Fachaufsätzen dargelegt:

  • Die Strategische Mediation. Plädoyer für einen überfälligen Perspektivwechsel. Teil 1 – Mit der Zukunft rechnen, statt sich nur eine zu wünschen; in: Spektrum der Mediation, Ausgabe 70, Dezember 2017, S. 18-22. (LINK)
  • Die Strategische Mediation. Plädoyer für einen überfälligen Perspektivwechsel. Teil 2: Mediation und Kapitalismus; Spektrum der Mediation, Ausgabe 71, S. 26 – 30. (LINK)

Zukunftsvorstellungen und Mediation

Mediation ist in der Lage, die Zukunft als Reflexionskategorie für die Konfliktbearbeitung in den Blick zu nehmen, wie es eine juristische oder schlichtende Bearbeitung nicht kann. Während die Schlichtung ihrer Anlage nach allein die Differenzen der Gegenwart in den Blick nimmt und deren Mitte als Kompromiss anbietet, nimmt der Richter das Gesetz als aus der Vergangenheit geronnenes Erfahrungswissen in den Blick, um Konfliktentscheidungen zu fällen. (Dass auch Richter oder Schlichter ganz praktisch eine Folgenabschätzung vornehmen und damit gewissermaßen in die Zukunft schauen, lass‘ ich hier mal unter den Tisch fallen, weil Praxis und Theorie doch zweierlei Dinge sind…)

Die Zukunft als Reflexions- und Entscheidungskategorie ist allerdings nicht allein eine sog. Zukunftsorientierung. Konflikte werden immer und von allen allein deshalb bearbeitet, damit eine bessere Zukunft daraus erwächst. Diese Zukunftsorientierung allein reicht nicht aus, um den Mehrwert zu generieren, wie ihn erkennbar nur der Mediation offen steht.

Es erscheint als Ironie der Geschichte, dass die Mediation zwar den Kuchen vergrößern wollte, aber das kapitalistische Erbe geradewegs ablehnt.

Hintergründe

Als Konfliktberater und Mediator ist es mir wichtig, dass Menschen gut durch die Zeit kommen, sie praktisch durch sie hindurch- und bestenfalls fortschreiten. Eine Klientin hatte mich darauf einmal aufmerksam gemacht, dass ich sie (wie auch andere) stets damit verabschiedet habe, sie möge gut durch die Zeit kommen.

Bereits diese Verabschiedungen, mehr noch aber der Titel dieses Podcasts war – das ist mir durch ihren Hinweis klargeworden – von Lucian Hölschers Buch „Die Entdeckung der Zukunft“ beeinflusst gewesen.

Aufsatz: Die Strategische Mediation Teil 1: Plädoyer für einen überfälligen Perspektivwechsel.