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Aufsatz: Die Strategische Mediation. Plädoyer für einen überfälligen Perspektivwechsel

Teil 2: Mediation und Kapitalismus

Spektrum der Mediation, Ausgabe 71, S. 26 – 30.

 

Auszüge:

Es erscheint als Ironie der Geschichte, dass die Mediation zwar den Kuchen vergrößern wollte, aber das kapitalistische Erbe geradewegs ablehnt.

 

Mediation bedarf nicht nur eines zukunftsgerichteten Produkts, um Menschen und Organisationen zu unterstützen, sondern auch Klarheit über die eigenen geistigen Wurzeln. Der Humanismus zielte in Zeiten religiöser Kriege keineswegs nur auf eine Befriedung der Menschen untereinander und stellte dafür durchaus religiöse Menschenbilder zur Verfügung, die bis heute ihre Wirkung entfalten. Der  Humanismus zielte auch auf die materielle Befriedigung des Menschen, die Beherrschung allen Lebens einschließlich des eigenen.

 

Der Kapitalismus wird allgemeinhin nicht für (moralisch) gut befunden, der Mensch schon. Weshalb Beide, der Mensch und die kapitalistische Wirtschaftsweise, für jene Betrachtung im Widerspruch und Kampf stehen. Es sei der Kapitalismus, der die Gier des Menschen anstachele, und damit auch unmenschliches Verhalten; er wecke die schlimmsten Triebe des Menschen und zerstöre zwischenmenschliche Beziehungen. Dieser Blick mag seine Logik haben, verkennt aber historische Tatsachen.

Die Gier des Menschen ist Jahrtausende älter als der Kapitalismus – und der Mensch, Homo Sapiens hat sich weder anderen Menschengattungen, noch anderen Tieren gegenüber ohne Kapitalismus besser verhalten, noch untereinander. Vielmehr wurde Homo Sapiens untereinander freund-, naja zumindest friedlicher, als sich der Kapitalismus auszubreiten begann. Und es ist kein Zufall, dass dies am gleichen Ort, in Europa, geschah. Hier wurden die Bedingungen geschaffen, die für den Kapitalismus notwendig waren.

 

Wirtschaft 3.0

Nachdem die Menschen zunehmend weniger nomadenhafte Jäger und Sammler waren (Wirtschaften 1.0) und in der Neolithischen Revolution sesshafte Bauern wurden (vor ca. 12.000 Jahren, Wirtschaften 2.0), haben sie jahrtausendelang, bis ca. ins 15./16. Jahrhundert hinein, die Wirtschaft als Nullsummenspiel betrieben: Was die einen hatten, konnten nicht die anderen haben. Deshalb war Reichtum verpönt, musste auf Kosten anderer ergattert worden sein. Geld und anderer materieller Reichtum wurde denn auch nicht eingesetzt, um eine bessere Zukunft zu bauen, war noch kein Kapital, sondern wurde von den einen gehortet (z.B. die Kirche), von den anderen verprasst (z.B. Adel). Es waren erst die Frühkapitalisten, die Ihr Geld als Kapital einsetzten, es zu neuer Wertsteigerung einsetzten und somit in eine bessere Zukunft investierten. Das war eine erstaunlicheKulturleistung der Menschheit, dessen zentrale Kontextbedingung darin besteht, in der Zukunft eine gestaltbare Lebenszeit zu sehen.

 

Mediation steht vor einem Parallelproblem:

Das Spiel soll grundlegend verändert werden, aus einem Nullsummenspiel soll ein Gewinnspiel werden. Schlimmstenfalls soll dabei der eine mehr als der andere gewinnen, aber jedenfalls kein Verlierer zurückbleiben. Das ist der ins Rampenlicht geschobene Win-win-Gedanke. Er mag als geflügeltes Wort wohl klingen, überblendet aber die tatsächliche Bezahlsituation. Wie in der Wirtschaft gilt auch in der Mediation: Zunächst muss bezahlt und investiert werden. Und zwar mit Vertrauen in die gemeinsam gestaltbare Zukunft. Dieses Vertrauen wächst nicht im friedlichen Zusammenleben, sondern allenfalls in (bereinigten) Konflikten.

Mediation ist die Veranstaltung, die Unerhörtes fordert: Vertrauen in Zeiten des Misstrauens!

Mediation ist die Lösung auf die beengende Problemdefinition, dass tradierte Konfliktbearbeitung ein Nullsummenspiel ist. Genau das will Mediation ändern.

 

Die Mediation zielt ebenso darauf ab, den Kuchen, um den sich gestritten wird, nicht bloß neu oder gerecht zu verteilen, sondern zu vergrößern, das Nullsummenspiel zu beenden und für alle etwas hinzuzugewinnen.Welcher Gedanke war je materieller und kapitalistischer?

 

Der Kapitalismus hat einen der bedeutsamsten Perspektivwechsel der Menschheit eingeläutet – wie das geschah, ist ein Lehrstück für Mediation.

 

…Worum es dem Kapitalismus geht...

  • Die Zukunft als gestaltbare Realität zu interpretieren,
  • die Bearbeitung von Konflikten nicht mehr als Nullsummenspiel zu begreifen,
  • sondern sich zunehmend darum zu bemühen, andere, gewinnbringende Erwartungen zu pflegen,
  • die Potenz einer Win-Win-Situation wahrzunehmen,
  • und mit Optimismus und Vertrauen gemeinsam zu investieren –

…Darum geht es im Kern auch der Mediation!

 

Mediation und Kapitalismus sind Kooperationsmechanismen, die den Kuchen für alle größer machen können.

 

Ich würde mich freuen, wenn Du Deine Gedanken und Überlegungen zu diesem Beitrag mit anderen Lesern in den Kommentaren teilst. Ich werde mich bemühen, zeitnah darauf zu reagieren.

 

Anmerkung: Demnächst erscheint ein Blog-Beitrag auf INKOVEMA, der weitere historische Einzelheiten und Parallelen (siehe Foto) aufgreift und erläutert, die in der Publikation keinen Platz finden konnten.