Die Architektur des menschlichen Denkens.

5 Empfehlungen an Mediatoren in der Mediation.

Grundlagen des Zwei-Systeme-Modells.

Autoren: Julian-Jakob Strauss/Sascha Weigel

Das menschliche Denken ist zweigespalten. Wenn der Mensch eine Entscheidung trifft oder ein Urteil fällt, sind zwei kognitive Systeme beteiligt. Sie heißen System 1 und System 2. Ganz einfach – und was dahinter steckt, zeigt dieser Beitrag. Daraus leiten sich fünf Empfehlungen direkt für die Mediation ab.

Überblick

Was macht diese Systeme aus? In der Tabelle sind die jeweiligen Eigenschaften aufgelistet, die sich seit ihrer Entdeckung in den 1980er Jahren zugeschrieben werden.

System 1 System 2
evolutionär alt evolutionär neu
unbewusst, unterbewusst bewusst
gemeinsam mit Tieren einzigartig menschlich
implizites Wissen explizites Wissen
automatisch kontrolliert
schnell langsam
parallel sequentiell
hohe Kapazität geringe Kapazität
intuitiv reflektiert
heuristisch analytisch
pragmatisch logisch
assoziativ regelbasiert
nicht einfach zu verändern formbar
unabhängig von normativen Überzeugungen von normativen Überzeugungen beeinflusst
unabhängig vom IQ abhängig vom IQ

Das assoziative Gedächtnis

Der Kern von System 1 ist das assoziative Gedächtnis.

Im System 1 sind sowohl angeborene als auch erlernte Fähigkeiten „gespeichert“, die schnell und häufig zur Verfügung stehen müssen. Der Mensch wird beispielsweise mit der Fähigkeit geboren, Gegenstände wiederzuerkennen und zu benennen. Diese Fähigkeit wird alltäglich gebraucht und erlaubt es Menschen, sich in ihrer Umwelt zurechtfindend zu bewegen.  Deshalb überrascht es nicht, wenn kleine Kinder etwa einen Hund sehen und „Wauwau“ zu sagen pflegen. Andere Fähigkeiten, wie das Fahrrad- oder Autofahren, werden durch lange Übung zu schnellen und automatisierten Routinen. Deshalb kann sich der Mensch beispielsweise nicht davon „abhalten“, einfache Sätze in seiner Muttersprache zu verstehen oder an Paris zu denken, wenn von der Hauptstadt Frankreichs die Rede ist. Die menschliche Freiheit findet hier eine natürliche Grenze.

Andere Fähigkeiten wiederum werden nur von Experten erlernt: Lediglich Schach(groß)meister können im Vorbeigehen an einer Partie Schach im Park sagen, dass „Weiß in drei Zügen matt gesetzt wird“ sowie nur ein erfahrener Arzt mit einem einzigen flüchtigen Blick eine komplexe Diagnose stellen kann.

Eine solche Expertenintuition hat nichts Magisches an sich. Vielmehr liefert die Situation selbst dem professionellen Auge ausreichend Hinweise, damit sein assoziatives Gedächtnis eine Expertenmeinung liefert. Es handelt sich also um eine Art Wiedererkennen, die Intuition genannt wird. Ein jeder Mensch vollbringt tagtäglich intuitive Meisterleistungen. Das assoziative Gedächtnis ermöglicht etwa, die Nuancen sozialer Situationen zu lesen und zu verstehen oder in Sekundenbruchteilen den Charakter eines Menschen anhand seines Gesichts einzuschätzen.

Das „hart arbeitende“ Gedächtnis

Kern des System 2 ist das gefühlt „hart arbeitende“ Gedächtnis.

Entscheidungen, Lösungen und Schlussfolgerungen, die nicht schnell, mühelos und ohne spürbaren Aufwand getroffen und gefunden werden, werden in der Regel mit Hilfe von System 2 getroffen. (Siehe obige Tabelle)

Das Zusammenspiel beider Systeme

Das Zwei-System-Modell ist eine Theorie zur Urteils- und Entscheidungsfindung. Denn zwischen beiden Systemen bestehen Verbindungen und Abhängigkeiten, die in ihrem Zusammenspiel menschliche Entscheidungsprozesse erklären und verständlich machen können.

Die Theorie fasst eine Vielzahl von mentalen Prozessen unter der Bezeichnung System 1 zusammen. Dabei postuliert sie, dass eine jede Entscheidung und ein jedes Urteil hier seinen Ursprung nimmt.

System 1 arbeitet automatisch und schnell, weitgehend mühelos und ohne willentliche Steuerung. Das System generiert fortwährend Impulse, die sich dem Menschen in Form von Eindrücken, Intuitionen, Absichten und Gefühlen zeigen. Wer sich je einfach auf eine Matte setzte oder legte, mit dem Ziel, diesen Impulsen nachzugehen, sie zu beobachten und zu verlangsamen, hat eine Idee davon bekommen, dass das nicht möglich ist. Diese Übung wird allgemeinhin „Meditation“ genannt. Hier zeigt sich System 1 besonders (hartnäckig) und macht deutlich, dass die Idee des „freien Willens“ vor allem eine Idee ist. Aber das steht auf einem anderen Blatt.

In der Regel werden diese Impulse als Art „Vorschläge“ von System 2 aufgenommen und akzeptiert und ggf. unterstützt. Dann reifen sie mitunter zu Überzeugungen oder zu willentlich gesteuerten Handlungen. Das mag ein Grund dafür sein, dass Menschen ihren emotionalen Eindrücken und Wünschen grundsätzlich nachgeben.

Doch wird der Mensch mit einem Thema, einer Frage oder einem Problem konfrontiert, auf das System 1 nicht schnell und mühelos eine Antwort formulieren kann, fordert es von System 2 eine detailliertere und spezifischere Antwort an. System 2 schaltet sich nicht von selbst ein, sondern „wird eingeschaltet“. Seine Aktivität ist energiezehrend.

Wenn Sie z.B. eine Rechenaufgabe lösen, wird die Frage „3 x 2?“ schlagartig von System 1 mit „6!“ regelrecht gekontert. Doch mit „17 x 24?“ hat System 1 in seiner Schnelligkeit Schwierigkeiten, so dass es ebenso schnell System 2 anfordert.

Die Anforderung (einer Operation) von System 2 geht oft mit dem subjektiven Erleben von Handlungsmacht, Entscheidungsfreiheit und Konzentration einher. Der Mensch entscheidet (unbewusst), dass er nun denken muss, sich anstrengen und erinnern, was er mal gelernt, gehört, gelesen oder sonstwie aufgenommen und abgespeichert hat. Abgesehen davon kann System 2 willentlich aktiviert werden, um die intuitiven Impulse von System 1 zu überwinden. In einem solchen Fall ist System 2 für Selbstkontrolle zuständig.

System 2 kann man also also Ort der „Vernunft“ bezeichnen. Es umfasst den Teil des Menschen, den dieser als sein bewusstes Selbst betrachtet („Ich denke, also bin ich“).

Mentale Anstrengung

System 2 überwacht und kontrolliert alle Impulse, die System 1 generiert. Einige Impulse finden direkt im Verhalten Ausdruck. Andere werden von System 2 modifiziert oder unterdrückt. Da System 2 nur ein geringes Budget mentaler Arbeitskraft zur Verfügung steht, ist Selbstkontrolle anstrengend und ermüdend.

In einer Studie mit sechs israelischen Bewährungsrichtern ist dieses Phänomen nachgewiesen worden. Es handelte sich um Bewährungsrichter, die über Anträge auf die bedingte Entlassung von Straftätern zu entscheiden hatten. Die Psychologen zeichneten sowohl die genaue Zeit der Beschlussfassung (im Schnitt sechs Minuten) als auch die Essenspausen der Richter (morgens, mittags und abends) auf. Im Anschluss verglichen sie den Prozentsatz der bewilligten Anträge mit der seit der letzten Essenspause vergangenen Zeit. Der Prozentsatz der bewilligten Anträge gipfelte nach jedem Essen bei etwa 65 Prozent und fiel danach stetig bis zur nächsten Essenspause auf null Prozent. Hungrige und erschöpfte Richter scheinen also auf die leichtere Standardposition der Ablehnung von Bewährungsgesuchen zurückzufallen. Psychologen bezeichnen dieses Phänomen als Selbsterschöpfung. Es wird durch einen Abfall des Blutzuckerspiegels verursacht, der sich einstellt, wenn System 2 stark beansprucht wird. Durch die Aufnahme von glukosehaltiger Nahrung kann der Effekt zumindest teilweise wieder ausgeglichen werden.

  1. Empfehlung für Mediator*innen: Mediationen besser am Morgen des Tages.

Konfliktbearbeitung ist anstrengend. Es erfordert von allen Parteien willentliche und körperliche Anstrengung. Mental erschöpfte Menschen – das haben wissenschaftliche Studien ergeben – neigen dazu, eher egoistische Entscheidungen zu treffen, sexistische Ausdrücke zu verwenden und in sozialen Situationen oberflächlichere Urteile zu fällen. Mediator*innen ist deshalb zu raten, die Mediation so zu terminieren, dass die Parteien nicht unter Selbsterschöpfung leiden. Da das Budget mentaler Willenskraft morgens am größten ist und danach durch getroffene Entscheidungen aller Art verringert wird, bietet es sich an, eine Mediation eher am Morgen denn am Abend stattfinden zu lassen.

Die Auswirkungen von Stress

Kurzfristiger Stress wirkt in der Regel adaptiv und löst bei der betreffenden Person ein anpassendes Verhalten aus. Dieser Mechanismus wird als Überkompensation bezeichnet. Ein zwischen den Medianten ausgetragener Konflikt kann demnach als Stressor verstanden werden, der System 2 aktiviert, im Idealfall zu Überkompensation führt und in Antizipation eines zukünftigen Konflikts zusätzliche Quantitäten an Motivation und Willensstärke erzeugt. Chronischer Stress dagegen beeinträchtigt die Funktionen von System 2 dauerhaft. Da System 2 als Quelle von Kreativität und Fantasie fungiert, steht der Teil des menschlichen Gehirns, der kreatives Problemlösen ermöglicht desto weniger zur Verfügung, je dringender er benötigt wird.

2. Empfehlung für Mediator*innen: Sorgen Sie für Stressfreiheit!

Dem Mediator fällt demnach in einem zu mediierenden Konflikt die Aufgabe zu, chronische Stresssituationen für die Medianten und sich selbst nach Möglichkeit zu vermeiden. Es mag für bestimmte Verhandlungsrunden Tradition sein, sie nur unter Druck, tief in der Nacht oder nach viel zu langen Sitzungen mit einem Kompromiss beenden zu können. In Mediationen, die kreative Lösungen zum Ziel haben, sind derart „calvinistische Arbeitsverständnisse“ hinderlich.

Heuristiken

Zu Heuristiken sehen Sie sich auch unseren Blogbeitrag hier an.

Nicht alle Intuitionen, die der Mensch wahrnimmt, speisen sich aus erlernten Fähigkeiten. Neben der Expertenintuition, über die jeder Mensch auf speziellen Gebieten verfügt, stellen Heuristiken eine alternative Quelle von Intuition dar.

Eine Heuristik ist eine Abkürzung beim Denken. Dabei handelt es sich zuweilen um eine Abkürzung, die zu einem anderen (als dem richtigen) Ergebnis führt.

Wenn System 1 mit einer schwierigen Frage konfrontiert wird, beantwortet es stattdessen einfach eine leichtere. Das läuft unterhalb der Wahrnehmungsschwelle des Menschen ab. Der Mensch, der die Lösung findet, merkt die Ersetzung und damit den Fehler im Ergebnis nicht. Das kommt zum Beispiel im Arbeitsleben regelmäßig vor; Präsentationen beinhalten abstrakte, regelmäßig stark beanspruchende Inhalte, so dass die Wahrscheinlichkeit steigt, dass Zuhörer beim Verarbeiten der Inhalte mentale Abkürzungen verwenden – ohne dass sie das bemerken.

Affektheuristik

System 1 steht dabei ein ganzes Bündel an mentalen Abkürzungen zur Verfügung. Zunächst besteht die Möglichkeit, sich bei dem Urteil über die Person von Gefühlen der Vorliebe oder Abneigung leiten zu lassen (Affektheuristik). Wenn die Person etwa unbewusst an den alten Mathelehrer erinnert, der einem – ungerechter Weise(!) – schlechte Noten erteilt hat, wird die Beurteilung der Person, die eben nicht der Mathelehrer ist, dennoch nicht positiv ausfallen. Falls die Person jedoch unbewusst an den besten Freund oder gar an einen selbst erinnert, wird die Person eher als sympathisch und umgänglich eingestuft.

Halo-Effekt

Abgesehen davon ist System 1 geneigt, von bekannten Eigenschaften einer Person auf unbekannte Eigenschaften zu schließen (Halo-Effekt). Damit entsteht ein einheitliches, widerspruchsfreies Bild der Person. Menschen können eben schlecht mit ambigen und ambivalenten Erscheinungen umgehen – zu denen Menschen zweifellos gehören.

Judgment-Heuristik

Wenn der potentielle neue Mitarbeiter charismatisch auftritt oder physisch attraktiv ist, wird er automatisch als netter, ehrlicher und intelligenter eingestuft. Schließlich beurteilt System 1 die Durchsetzungskraft und Führungsstärke einer Person anhand seiner Gesichtszüge (Judgment-Heuristik). Bei Männern führen markante Gesichtszüge und ein gewinnendes Lächeln zu einer entsprechend positiven Bewertung. All diese Heuristiken werden von System 1 unbewusst angewandt und vom Menschen als Bauchgefühl oder Intuition wahrgenommen. Da sie dem Menschen erlauben, schnell und effektiv zu funktionieren, werden sie von Psychologen entweder als „schnell und sparsam“ oder als „schnell und schmutzig“ bezeichnet.

In der Mediation üben zudem die folgenden Heuristiken ihren Einfluss aus.

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WYSIATI („What you see is all there is“)

System 1 arbeitet assoziativ. Das bedeutet, System 1 verknüpft Vorstellungen miteinander, die im assoziativen Gedächtnis gespeichert sind und ruft sie dergestalt ins Bewusstsein (System 2). Hierbei berücksichtigt es jedoch nur solche Vorstellungen, die durch die spezielle Verarbeitung aktiviert werden. Vorstellungen, die nicht aktiviert werden oder nicht vorhanden sind, blendet das System aus. Sie gibt es praktisch nicht. Dieses Vorgehen führt oft zu voreiligen Schlussfolgerungen.

Stellen Sie sich das Präsentationsbeispiel von eben mit dem Unterschied vor, dass ein Kollege der Präsentation beiwohnte und nun über seinen Eindruck berichtet. Der potentielle Mitarbeiter erschien ihnen intelligent und stark.

Haben Sie auch den Eindruck, dass er Führungsqualität besitzt?

„Vermutlich, ja!“

Wer intelligent ist und stark rüberkommt, kann doch auch Menschen führen…

Ihr System 1 hat auf Basis beschränkter Informationen ein Urteil gefällt. Herzlichen Glückwunsch.

Möglicherweise handelte es sich hierbei aber um eine voreilige Schlussfolgerung.

Was, wenn die nächsten beiden Adjektive für den Präsentierenden „dominant“ und „verschlossen“ gewesen wären?

Vermutlich sähe ihr Urteil nun anders aus.

WYSIATI (dt. Nur was man gerade weiß, zählt) ist also eine Heuristik zugunsten des ersten Eindrucks, die von System 1 angewandt wird, wenn es Impulse für anstehende Urteile oder Entscheidungen auf beschränkter Datenbasis generiert. Ihr liegt eine Asymmetrie zwischen der Art und Weise, wie das Gehirn gegenwärtige Informationen verarbeitet, und der, wie es mit Informationen umgeht, die es nicht hat, zugrunde. Da System 2 träge ist, unterstützt es in der Regel die von System 1 erzeugten Eindrücke, die sich so zu Überzeugungen wandeln.

In einer entsprechenden Studie haben Psychologen die Reaktion von Menschen untersucht, die im Rahmen einer fingierten Gerichtsverhandlung einseitige Informationen erhielten und dies auch wussten. Dabei wurden den Probanden entweder nur die Plädoyers der einen Partei oder aber diejenigen beider Parteien vorgetragen. Wie bei einer solchen Verhandlung üblich enthielten die Plädoyers jeweils eine Darstellung des Geschehens aus der jeweils für die Partei vorteilhaften rechtlichen Sicht. Entscheidend war, dass die Anwälte jeweils nur auf Basis solcher Informationen argumentierten, die beiden Parteien vorab zur Verfügung standen, sodass den Argumenten die gleichen Informationen aus unterschiedlicher Sicht zu entnehmen waren. Im Ergebnis hat sich herausgestellt, dass sich die Präsentation der ersten einseitigen Erzählung sehr stark auf das Urteil der Teilnehmer ausgewirkt hat, obwohl die Probanden die Versuchsanordnung kannten und sich mühelos die Argumente der anderen Seite hätten vergegenwärtigen können!

Dies galt sowohl für diejenigen Probanden, die nur ein Plädoyer gehört als auch für diejenigen, die beide Vorträge vernommen haben. Interessanter Weise waren sich diejenigen Probanden, die nur ein Plädoyer vernommen haben, ihrer Urteile über den Fall sehr viel sicherer als diejenigen, die beide Seiten angehört haben. Aus diesen Überlegungen folgt zum einen, dass Menschen die Qualität ihres Wissens überschätzen. Zum anderen berücksichtigen Menschen oftmals nicht, dass Informationen, die für ihr Urteil maßgeblich sein sollten, nicht vorhanden sind. Ferner legt die Studie nahe, dass System 1 Zweifel und Ambiguität an einmal konstruierten Erzählungen unterdrückt.

3. Empfehlung für Mediator*innen:

Nix ist, wie es scheint – schon gar nicht aufgrund begrenzter, aber eindeutiger Beschreibungen!

Dem Mediator kommt beim Verhandeln der Parteien u.a. die Aufgabe zu, Konflikte aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten und das gegenseitige Verstehen zu fördern. Da System 1 aus dürftigen Informationen automatisch weitreichende Schlussfolgerungen zieht und nicht imstande ist, zu ermessen, wie groß die Sprünge sind, die es beim Folgern macht, wirken sich beispielsweise Informationen, die der Mediator im Vorfeld der eigentlichen Mediation in einem Vorgespräch sammelt zumindest unbewusst einseitig auf sein Urteil über den Konflikt aus. Es erfordert mentale Anstrengung einmal gefasste Überzeugung von System 2 revidieren zu lassen. Dessen ungeachtet ist es Aufgabe des Mediators, seine, über den Konflikt aufgestellten Hypothesen stets kritisch zu hinterfragen und dem Verlauf des Geschehens anzupassen. Ohne die Ansichten der Parteien hinreichend gewürdigt zu haben, ist die Einschätzung des Mediators hinsichtlich des Konfliktgeschehens mithin selten objektiv. Abgesehen davon kann der Mediator die Heuristik strategisch einsetzen, indem er den Medianten externe Mediationserfolge vorstellt, die positive Erwartungen an das Verfahren wecken und so die Bereitschaft zu einer Einigung erhöhen.

4. Empfehlung für Mediator*innen:

Rechnen Sie immer damit, dass Sie Informationen noch nicht haben oder verarbeitet haben, die Ihre Geschichte, die Sie glauben zu hören, stören könnte. Komplexität kommt nicht erst auf, wenn wir sie erkennen. Sie ist regelmäßig in den einfachen Dingen enthalten – auf der unsichtbaren Rückseite.

Halo-Effekt 2.0 – narrative Verzerrungen im Namen der Kohärenz

Eine Folge des „Halo-Effekts“ ist für die Mediation besonders wichtig: Medianten erzählen ihre Konfliktgeschichte in einer verzerrten Rückschau. Das ist nur allzu menschlich, dennoch aber für den Mediator besonders wichtig zu beachten. (Alle) Menschen neigen dazu, Verhaltensweisen als Ausdruck allgemeiner Neigungen und Persönlichkeitszüge zu verstehen. Der Mensch ist, was er tut. Basta. Deshalb werden in Konfliktgeschichten Verhaltensweisen zu Seinsbeschreibungen: „Du bist so faul, dass ich es nicht mehr ausgehalten habe!“ Und deshalb empfiehlt das Harvard-Verhandlungskonzept, Personen und Verhalten zu trennen.

Aber der Drang zur Kohärenz ist groß, zumal im Konflikt besonders die Widersprüchlichkeit des anderen besonders nervt. Kennen Sie den Wunsch nach innerer Klarheit auch? Selbst vor uns selbst ist Widersprüchlichkeit nur schwerlich zu akzeptieren. Wieso? Nun, wir Menschen sind darauf geeicht, auf Gedeih und Verderb darauf aus, zu verstehen! Verständnis lässt Erwartungen erfüllen, erfüllte Erwartungen begründen die Illusion der Sicherheit. Und Sicherheit….!

Im Konflikt oder besser in der Auseinandersetzung darüber führt das nicht selten zu der „Erkenntnis“, man habe es ja schon immer gewusst oder zumindest „wissen können, es aber letztlich nur geahnt“. Von Laien wurde die Finanzkrise 2008 ebenso im Nachgang kommen gesehen wie bereits schon immer gewusst, dass sog. Experten keinerlei Ahnung haben und es deshalb ganz logisch ist, dass sie alle die Finanzkrise haben nicht kommen sehen.

Dabei zeigt sich der Fehler erst dem Wissenden, der die Konsequenzen erfahren hat. Vorher ist das Wissen nicht viel wert, vor Eintritt der Konsequenzen ist das Wissen um die Konsequenzen als solches nicht erkennbar.

5. Empfehlung für Mediator*innen:

Die Fehler und Fehltritte der Medianten mögen in der Mediation, die zeitlich nachfolgend stattfindet, offensichtlich erscheinen. Je offensichtlicher die Fehlerhaftigkeit des Narratives ist, desto vorsichtiger sollten sie als Mediator*in darin sein, diese glatte Geschichte ungefragt stehen zu lassen. Wertschätzung bedeutet hier, dass niemand die Dinge voraussehen konnte, auch wenn er das jetzt behauptet oder schon damals behauptet hat. Die Dinge müssen sich erst zeigen, ehe sie als wahr gelten können.

Diese hier aufgezeigten Heuristiken und Beurteilungsfehler sind nur ein kleiner Ausschnitt aus diesem Themenfeld.

Welche Heuristen, Fehlschlüsse und Entscheidungsfehler sind Ihnen bei Ihrer Arbeit als Mediator*in, Coach oder Supervisor*in untergekommen.

Welche Empfehlungen können Sie uns geben.

Wir würden uns freuen, wenn wir davon in den Kommentaren lesen und mit Ihnen austauschen können.

Vielen Dank und kommen Sie gut durch die Zeit!

Julian J. Strauss & Sascha Weigel

Hinweis:
Der folgende Beitrag beruht auf der Abschlussarbeit der Basisausbildung Mediation, die 2017/2018 an der Martin-Luther-Universität vom Erst-Autor Julian Jakob Strauss absolviert wurde.