Warum jetzt Mediation?

in: Mediation als Forschungsgegenstand. Auf dem Weg zu einer deutschsprachigen Mediationswissenschaft; erscheint 2017; hrsg. von Prof. Dr. K. Kriegel-Schmidt; S. 143 – 159.

Auszug: Warum jetzt Mediation?!

Eine interdisziplinäre Erörterung eines zeitgeschichtlichen Phänomens

  1. Einleitung und Forschungsfrage

In der Literatur zur Mediation beherrschen Leitfragen die Diskussion, die vor allem darauf abzielen, wie (gute oder erfolgreiche) Mediation durchgeführt wird und wie sie in das individuelle und gesellschaftliche Konfliktmanagement-Repertoire passt.

Der folgende Text soll eine Anregung und erste Antwort darauf sein, warum Mediation jetzt aufkommt – und geradezu eine Moderne Mediation entsteht. Welche Umstände führen dazu, dass in unseren Tagen eine Moderne Mediation in Wissenschaft, Lehre und Praxis, wenn auch unterschiedlich intensiv, so doch gesellschaftsweit ausgreift. Für welches Problem ist diese Moderne Mediation die Lösung?

Dabei wird der These nachgegangen, dass die bisher gesellschaftlich bewährten Konfliktbearbeitungsverfahren, allen voran das staatlich organisierte Rechtssystem, nicht die Verfahrenslösung bieten, die die Beteiligten aufgrund gewandelter gesellschaftlicher Umstände (zusätzlich) benötigen. Es bedarf, so die These weiter, Verfahren, die intensivere Mitsprache- und Mitgestaltungsmöglichkeiten aufweisen, um den „Megatrends“ der Individualisierung (Eigenverantwortlichkeit) und Konnektivität (Verbindung) Rechnung zu tragen.

Die Forschungsfrage ist einfach, aber nicht leicht: Warum Mediation? Warum jetzt? Warum nicht schon früher? Warum nicht noch ein wenig damit warten und „bewährte“ Konfliktlösungsmethoden nutzen? Mediation ist anspruchsvoll, erfordert ein hohes Maß an sozialen Kompetenzen, ist emotional aufwendig und dabei ohne Gewähr, dass eine gemeinsame Lösung gefunden wird. Es ließe sich durchaus das Bonmot auf das Mediationsangebot münzen: „Bitte nicht helfen, es ist schon so schwer genug!“

Aber nein, Mediation bietet sich geradezu in Konfliktsituationen an, beansprucht auch gesellschaftlich stetig mehr Aufmerksamkeit (implizite These) und setzt sich im Allgemeinwissen und allgemeinen Handlungsrepertoire durch (explizite Hoffnung).

Kernthema des Beitrags ist die Frage, wieso taucht Mediation „jetzt“ als Konfliktlösungsmethode auf, lässt national und übernationale Gesetzes- und Regelwerke entstehen und kommt geradezu als Fahnenträgerin der außergerichtlichen Streitbeilegungsmethoden daher –

  • einerseits die Gerichtspraxis der Staaten implizit kritisierend (Stichwort: Eigenverantwortlichkeit),
  • andererseits all die kommunikativen Lehr- und Erfahrungswerte aus der (Tiefen-, Verhaltens- und Humanistischen) Psychologie, der Soziologie und den übrigen Sozialwissenschaften für Jeden und Alle praktisch umsetzend und damit implizit konkurrierend?

 

  1. Implizite These

Die Frage nach dem Grund für das Aufkommen von Mediation impliziert die Annahme, dass Mediation tatsächlich aufkommt und nicht schon, wenn auch unauffällig, vorhanden war. Oder anders gewendet: Taucht Mediation tatsächlich jetzt erst auf und wird vermehrt angewendet und reflektiert oder handelt es sich um ein längst existentes Phänomen, dass erst jetzt und warum auch immer gesellschaftliche, mediale Aufmerksamkeit erfährt? Diese These ist aktuell nur unzureichend belegt, da entsprechendes Datenmaterial weder vorliegt, noch ausgewertet ist. Folgende Punkte können aber bereits festgehalten werden:

„Mediation“ ist ein uraltes Verfahren – und keine neue Erfindung: Selbstverständlich lassen sich frühe Zeugnisse finden, in denen der Gedanke, einen neutralen Dritten zur Konfliktbearbeitung hinzuzuziehen, angedeutet und entsprechende Geschehnisse beschrieben sind. Wir finden solche Zeugnisse sowohl in der westeuropäischen Tradition, z.B. in den diplomatischen Bemühungen in antiken Zeiten, wobei hier die besondere Rolle der Götter betont werden muss (was nicht selten unterbleibt), als auch in den – häufig erwähnten – neuzeitlichen Bemühungen z.B. des Mediators Contarini um des Westfälischen Frieden Willens. Noch klarer finden wir Zeugnisse, die die „mediative Haltung“, die Ethik und Philosophie beschreiben, in anderen Kulturen, z.B. in China und Japan, deren Religion und Philosophie stärker auf Harmonie und Konsens ausgerichtet zu sein scheinen und Verfahren ähnlich der Modernen Mediation eine lange Tradition aufweisen.

Doch hierbei sollten die Entwicklungslinien nicht verwischt oder als Parallelen dargestellt werden. Zum Aufkommen der Modernen Mediation zunächst in Nordamerika, sodann in Westeuropa, mögen die hier angedeuteten asiatischen Quellen beigetragen haben. Allerdings fehlt es – soweit ersichtlich – noch an einer belegenden Wirkungsforschung der wechselseitigen Beziehungen und Bezugnahmen.

Für die hier vertretene These, dass die Moderne Mediation wenn schon nicht eigenständig, so doch neuartig aufgekommen ist, ist ein anderer Umstand relevant. Es waren im 19. und 20. Jahrhundert die westeuropäisch-geprägten Staaten, die mit ihren Staats- und Rechtsverfassungen weltweit Modell standen. Gerade China und Japan waren bemüht und erfolgreich, die großen zivil-, aber auch strafrechtlichen Kodifikationen sowie die staatsrechtlichen Modelle Westeuropas (einschl. den USA) zu rezipieren und praktisch zu übertragen. Gerade solche Staaten, deren kulturprägende Philosophien als mediationsaffin gelten, waren besonders darum bemüht, westeuropäische Gesetzeswerke, insbesondere zum Privatrecht zu übernehmen und für sich (zum Teil unverändert!) zu nutzen, v.a. um individuelle Rechte zu sichern und zu schützen. Denn das war es vor allem, was eine „bürgerlich organisierte“ Gesellschaft offenbar benötigte…