Strukturwandel von der Modernen zur Postmodernen Gesellschaft
Vom Doing Generality zum Doing Singularity
Kultursoziologische Einsichten und Konzepte nach Andreas Reckwitz
I. Einleitung
Auf die Gesellschaft schauend, stellt Reckwitz einen grundlegenden Wandel seit den 1970er Jahren in den sozialen Praktiken fest. Was vorher die Norm war, ist seitdem auf dem Rückzug, was als Rand- oder gegenkulturrelles Phänomen galt, hat seither an Dominanz gewonnen. Gegenkulturelle Bewegungen wie seit des 1960er die sog. Counter Cultures in der Moderne sind im prägend und präsent in der westlichen, medial wahrgenommenen und wahrnehmbaren, Welt geworden. Davon soll hier im ersten Institutsentwurf die Rede sein.
Reckwitz abstrahiert diesen Wandel und erkennt eine zunehmend verdrängte Logik des Allgemeinen und eine zunehmend nach Dominanz strebende Logik des Besonderen, vom Doing Generality (dazu unter II.) sozusagen zu einem Doing Singularity (dazu unter III.).
Für diesen Wandel seit den 1970er Jahren in Nordamerika und Westeuropa macht Reckwitz drei Faktoren als Motoren, als Treiber für den Wandel aus, die auch heute noch weiter wirken. Diese Treiber werden im Anschluss knapp vorgestellt (dazu unter IV.) und in den folgenden drei Institutsentwürfen konkretisiert.
II. Moderne (19.-20. Jahrhundert, doing generality)
Prägend für die Moderne in Abgrenzung zur Frühen Neuzeit wird seit langem ein Prozess formaler Rationalisierung erkannt. In allen gesellschaftlichen Feldern, zunächst vor allem in der Wirtschaft und den Wissenschaften, macht sich die Moderne an Strukturelementen fest, die man mit
- Standardisierung,
- Formalisierung,
- Normalisierung und
- Klassifizierung
bezeichnen könnte. Der Weg des Westens war gerahmt von Normierungen und Standardisierungen – und das industriell (=fleißig) in allen Feldern des Sozialen. Die Vermessung der Welt hatte zur Folge, dass sie in Formen, Klassen und Normen erfassbar und erkennbar gemacht wurde (dazu ausfrl. Osterhammel, J.: Die Verwandlung der Welt, Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2010; Roeck, B. : Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance, München 2020).
Kulturhistorisch lassen sich drei Stufen in diesem Prozess ausmachen:
1. Verdrängung der Feudal- und Adelsgesellschaft durch die bürgerliche Moderne
Zunächst verdrängt die bürgerliche Moderne, die Feudal- und Adelsgesellschaft: die frühe Industrialisierung (Osterhammel: Die Verwandlung der Welt), die Verwissenschaftlichung (Roeck: Das große europäische Gespräch), globalisierte, kapitalistische Produktionsweisen greifen Platz, aber auch Demokratisierung und Verrechtlichung (Kodifzierungen und Normierungen der bürgerlichen Gesellschaft!).
2. Verdrängung der Bürgerlichen Moderne durch die organisierte und industrielle Moderne
Im 20. Jahrhundert übernimmt die organisierte und industrielle Moderne den gesellschaftlich maßgebenden Ton und führt die Moderne Gesellschaft in ihrer sozialen Logik des Allgemeinen zu ihrem Höhepunkt in den 1960er Jahren. Die Massen- und Populärkultur hat hier ihre Präsenz.
Wer sich kein rechtes Bild dieser Massen- und Populärkultur dieser Zeit machen kann, der kann sich dies von Monsieur Hulot in „Tatis herrliche Zeiten“ (1968) zeigen lassen.
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Mehr Informationen3. Verdrängung der organisierten Moderne durch die Post- bzw. Spätmoderne
In der Post- bzw. Spätmoderne wandelt sich das Kulturalisierungsmoment und erhält eine neue Qualität. Die Counter Cultures übernehmen die soziale Prägung der Gesellschaft. Von der gesellschaftlichen Peripherie kommend, namentlich der Kunst und Kultur, werden ihre soziale Praktiken und damit einhergehenden Intentionen nach Sichtbarkeit, nach Authentizität, nach Autonomie und Selbstbestimmung, Entfesselung und Einzigartigkeit gesamtgesellschaftlich prägend, zunächst im Universitätswesen und in der Pädagogik, dann zunehmend in der Beratung und im Managementdiskurs, späterhin im Zusammenleben innerhalb einer Familie, mehr und deutlicher aber noch in der Führung des Lebens an sich. Vom Lebensstandard zum Lebensstil.
III. Postmoderne (ab ca. 1970er, doing singularity)
In der Post- oder Spätmoderne hat sich die Ausnahme zur Regel gekehrt – und dominiert den Prozess weiterer Vergesellschaftung. Historisch lässt sich der Beginn mit dem Ende der 1970er Jahre in den USA und Westeuropa verorten. Eine soziale Logik des Besonderen (doing singularity) greift seitdem Platz.
Diese soziale Logik des Besonderen zeigt sich als Singularisierung des sozialen Lebens in fünf Einheiten. Wichtig ist dabei, dass Singularisierung etwas anderes ist als die oftmals befürchtete oder berüchtigte Individualisierung. Die fünf Einheiten der Logik des Besonderen erhalten ihr Format als:
- Objekte (Artefakte, v.a. Gegenstände),
- Subjekte,
- Räumlichkeiten (Orte, Städte, Naturgegenden etc.),
- Zeitlichkeiten (Events etc.) und
- Kollektive.
Diese fünf Einheiten werden durch soziale Praktiken aktiviert und beansprucht, sind Konsequenzen von Kooperationen, Ausdrücke des Kreativen und Kommunikativen. Während soziale Praktiken in der modernen Gesellschaft, vor allem in der organisierten Modernen, auf ein doing generality („So macht man das – und nicht anders!“) ausgerichtet wurden, z.B. durch identische Werkzeuge, idealisierte, d.h. standardisierte Lebensläufe (lineare Biografie), durch identische Industriestätte, zukunftsgerichtete, routinierte Zeitgestaltung und organisierte Organisationen, die erschreckendermaßen dann geradezu austauschbar wurden, entwickeln sich die sozialen Praktiken in der postmodernen Gesellschaft zu einem doing singularity und sind einer sozialen Logik des Besonderen unterworfen. Soziale Praktiken zielen auf Einzigartigkeit ab, wobei das standardisierte auf die Hinterbühnen des Sozialen verdrängt wurde. Sie sind selbstverständlich, aber nicht selbst ein Mehrwert. Der Standard reicht nicht mehr aus, das Ding braucht seine eigene Geschichte und möglichst viel davon (Storytelling!).
Reckwitz macht drei Treiber für diese Singularisierungsprozesse aus.
IV. Drei Treiber der Singularisierung
Letztlich tragen drei gesellschaftliche Treiber den Wandlungsprozess und schälen die Singularisierungsprozesse aus der organisierten Moderne heraus hi zu einer Postmoderne. Diese drei Treiber sind
- die Soziokulturelle Authentizitätsrevolution,
- die Postindustrielle Kulturkapitalismusrevolution und
- die Mathematisch-technologische Digitalrevolution.
Gesellschaftlich liegen ihre Quellen freilich verstreut und lassen sich tief bis in die bürgerliche Moderne zurückverfolgen (dazu Reckwitz, Das hybride Subjekt), aber seit dem Ende der 1970er Jahre befeuern sie sich gegenseitig.
1. Soziokulturelle Authentizitätsrevolution
Die soziokulturelle Authentizitätsrevolution wird getragen von der akademischen Mittelklasse, die zunächst in den 1960er lediglich 5% Bevölkerungsanteil betrug, nunmehr aber in allen westlichen Industrieländern über 30% beträgt. Studierte sind kein elitäres Randphänomen, sondern – wenn man so will – die „gesellschaftliche Norm“. Aber dieser rein quantitative Aspekt, der noch an anderer Stelle ausführlicher besprochen werden wird („Neue Mittelklasse“), ist hier nicht maßgebend, sondern die damit einhergehenden Qualitäten.
Dank der Bildungsexplosion ist diese Klasse jedenfalls aufgestiegen und kann ein hohes kulturelles Kapital vorweisen. Der damit einhergehende Wandel im Lebensstil, der nach dem „echten“, dem eigenen und eigentlichen Lebenserlebnis trachtet und vom Lebensstandard hin zur Lebensqualität strebt, wird nunmehr von Kindesbeinen an beschworen. Das postmoderne Subjekt muss schon sein bestes Leben leben, will es nicht die Ängste spüren, diese Chance verpasst zu haben.
Es ist die Revolution der Authentizität, die den vielbeschworenen Wertewandel wie in einem Brennspiegel bündelt und den Wandel von Pflichten- und Akzeptanzwerten hin zu den Selbstentfaltungswerten beschreibt.
2. Postindustrielle Kulturkapitalismusrevolution
Die Revolution im Wirtschaftlichen lässt sich als Kulturalisierungsprozess des Ökonomischen beschreiben. Während die Wirtschaft der organisierten Moderne eine Organisation der Organisation im Sinne einer Standardisierung und Formalisierung der Wirtschaftsorganisationen war, geradewegs mit dem Organigramm als Ikonographie und exaltiert im kapitalistischen Fordismus und im sowj. Staatskommunismus (z.B. in der Landwirtschaft in Kolchosen).
Doch diese organisierten Organisationen werden seit den 1970ern und dann vor allem seit den 1990ern mehr und mehr „überführt“ in innovationsgetriebene Singularitätsmaschinen, die kulturalisierte Einzigartigkeiten (Raritäten+Originalitäten) herstellen müssen, um am Markt zu überleben – oder untergehen.
Zudem zeichnet sich ein Wandel in der Ökonomie ab, der kurz vom praktischen Ding zum kulturellen Gut bezeichnet werden könnte. Der praktische, standardisierte Gegenstand, dessen Preis aus Produktionskosten und Gewinn zusammenaddiert werden konnte, geht es zunehmend mehr um Kulturgüter, um Marken, deren Preis sich vor allem vom kulturellen Wert für den Kunden herleiten lässt. Die Marktmechanismen dafür sind vor allem vom Kunstmarkt übernommen worden.
3. Mathematisch-technologische Digitalrevolution
Es ist die Digitalisierung der Technologien, vor allem der Medien, mit deren Hilfe die Gesellschaft sichtbar gemacht wird und Subjekte, Kollektive, Räumlich- und Zeitlichkeiten sichtbar gemacht werden. Es ist die Digitalisierung, die die Routinen der organisierten Gesellschaft (zer-)stört, geradewegs eine Katastrophe Gutenbergschen Ausmaßes für diese ist und ihre Elemente granuliert – und auf diese Weise und in ihrer Sichtbarmachiung singularisiert.
Es ist diese Digitalrevolution, getragen von tragbaren, personalisierten Computern, dem Internet und der KI-durchtränkten Cloud, die die Instrumente für Alle parat hält, Singularisierungsprozesse zu planen, durchzuführen, zu beobachten, zu bewerten und darüber zu reflektieren und kommunizieren.
Wie schon gesagt, diese drei Faktoren verzahnen sich seit den 1970ern und begründen die Postmoderne: Die akademisierte Mittelklasse findet vor allem in der Bildungs- u. Kulturökonomie berufliche Betätigung (Universitäten- u. Fakultätenboom, Medien, Neue Medien etc.), giert nach originären, singulären Gütern, die ihren Authentizitätswünschen entsprechen, vom Yoga bis zum Yogi-Tee, vom Achtsamkeitsseminar bis zum Alpaka-Pullover, ach was, bis zum Vikunja-Pullover. Markant ist dabei, dass Luxusgüter von einst den Weg zur gesellschaftliche Mitte angetreten haben – und es für wahren Luxus heute, schon eine Insel (mit Häusschen) sein muss.
Auf diese drei Faktoren der gesellschaftlichen Transformation werde ich in den nächsten Institutsentwürfen eingehen.
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