Die Kulturkapitalismusrevolution
Der Weg vom materiell-industriellen Kapitalismus (doing generality) zum kulturell-postindustriellen Kapitalismus (doing singularity)
Kultursoziologische Einsichten und Konzepte nach Andreas Reckwitz
I. Einleitung
Die Postmoderne (ab ca. 1970er) verdrängt im Wege der Singularisierung und Kulturalisierung die organisierte Moderne wie sie sich seit den 1920er Jahren in den USA und in Westeuropa ausgeprägt hatte. Diese von Reckwitz konstatierte Singularisierung zeigt sich in fünf Einheiten – und zwar in Objekte (Artefakte, v.a. Gegenstände), bei Subjekten, in Räumlichkeiten (Orte, Städte, Naturgegenden etc.) ebenso wie in Zeitlichkeiten (Events etc.) und bei Kollektiven. Sie werden jeweils durch soziale Praktiken aktiviert und beansprucht.
Reckwitz betont drei Singularisierungstreiber: die soziokulturelle Authentizitätsrevolution, die postindustrielle Kulturkapitalismusrevolution und die mathematisch-technologische Digitalrevolution. Im Folgenden geht es um die postindustrielle Kulturkapitalismusrevolution.
II. Der große Kapitalismuswandel im 20. Jahrhundert
Dass die Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Eindruck einer organisierten Moderne machte, hat vor allem damit zu tun, dass die (westliche) Wirtschaft auf Masse und Standard ausgerichtet war. Die (geforderte und erwünschte) Herstellung der Massenware als Güterwaren führte dazu, dass die Gesellschaft standardisiert daherkam, konformistisch erschien, in der alle nach dem allgemeingültigen Lebensstandard strebten. Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft auf hohem Wohlstandsniveau war allseits anvisiert.
Doch die Gegenkulturen, die Nischenbeheimateten und sich selbst und allseits als besonders Definierenden begannen die kulturelle Dominanzrolle zu übernehmen. In Universitäten und modernen Künsten (auch Werbung!) ausgebildet und geprägt, in Kreativberufen arbeitend und die neuen Technologien im Kino, in Fernsehanstalten sowie späterhin in Beratungsberufen anwendend wuchsen „die Studierten“ von der „arbeitsscheuen“ zur kulturellen Leitgruppe.
In der Wirtschaft zeigte sich dieser Wandel von einer standardisierten, auf funktionale Massengüter angelegten Industriewirtschaft (doing generality) hin zu einer spezifizierten, auf ideelle, kulturalisierte, v.a. affizierende Güter, die das Besondere ansprachen (doing individuality).
III. From Doing Generality to Doing Singularity
Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft: Die Industriearbeiterschaft, die einst ca. 50% der arbeitenden Bevölkerung ausgemacht hat, ist heute in Deutschland auf ca. 25%, in den USA sogar auf weniger als 15% gesunken. Die Dienstleistungsberufe sind andererseits rasant gestiegen, auf ca. 75% der arbeitenden Bevölkerung. Rasant gestiegen sind seit den 1980er Jahren die informations- und wissensarbeitenden Bevölkerungsanteile. Dabei gibt es eine Entwicklung von Dienstleistungsjobs, die kulturell abgewertet und mit wenig Bildungskapital versehen wird (Job an der Supermarktkasse als Symbolbild). Und gibt es die kulturell aufgewerteten Kreativ- und Beratungsberufe, die sich in den maßgebenden Institutionen der Gesellschaft befinden: Universitäten, TV-Anstalten, Kanzleien etc.
Kern des Postindustriellen ist allerdings, dass sich die Form der maßgebenden Wirtschaftsgüter (inkl. Dienstleistungen), ihre Produktionsweisen sowie die Arbeits- und Organisationsformen, die sich ebenso geändert haben wie die Märkte und der Konsum selbst. Hier ist eine kulturalisierte, auf Kreativität und Innovation ausgerichtete Wirtschaftsform maßgebend geworden, deren Ziel es ist, Affekt- und individualisierte Kulturgüter zu produzieren.
Eine erste, pointierte Gegenüberstellung soll die Entwicklung übersichtsartig verdeutlichen.
Moderne (20. Jhrdt.) |
Spätmoderne (21. Jhrdt., ab ca. 1980er) |
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organisierte Industriekapitalismus |
ästhetische, desorganisierte Kulturkapitalismus |
Primat: Logik des industriell, standardisiert Allgemeinen, bürokratische Betriebskapitalismus |
Logik der Ökonomie des kulturell Besonderen – und des Schnellen (Moden, Zyklen etc.) |
Herkommen: Gesellschaftsentwürfe des 19. Jahrhunderts (Liberalismus, Sozialismus), „bemakelt“ durch romantischen, idealisierten Nationsgedanken |
aus creative industries entstanden (Mode, Werbung, Design), die die Brücke vom Künstler-Boheme zum (Sozial-)Ingenieur |
Leitidee: Formalisierung, Rationalisierung, Standardisierung, Norm(alis)ierung, Optimierung |
Kulturell aufgeladen, Einzigartigkeit, Marke u. Design, |
Trias: Produzent-Produkt-Konsument |
Autor-Werk-Rezipient/Publikum (Ko-Operation, Kundenorientierung!) |
Höhepunkt: Fordismus: USA Staatskommunismus: UDSSR Rheinische Kapitalismus: Westdeutschland |
postfordistische Branchen: Medien, Unterhaltung (Musik, Film, Games), Beratung, Architektur, Forschung und Entwicklung, Design, Werbung, Internet Services, Public Relations, Ausstellungswesen, Mode, Tourismus, Wellness/Health…; „befleckt“ durch total-standardisierte Digitalprozesse im Hintergrund |
Organisation: hierarchisch, arbeitsteilig organisierte Matrixorganisation, die um Standardisierung (Din), Formalisierung (Bürokratie), Norm(alis)ierung (Handbücher, Ingenieursgedanke) bemüht ist; Zugehörigkeits- und Identitätsmangel ->örtlich unabhängig (Globalisierung) Stahl- und Autokonzerne, Energie-, Chemiekonzerne, Pharma etc. -> Auch diese alten Riesen kulturalisieren sich … |
Startup-fixiert Einzigartigkeit (unsere DNA!), Kulturorientiert, Natürlichkeit, Ursprünglichkeit und Authentizität, Zeitlich limitierte und emotional dichte Organisationsweisen (Teams, Projekte, fluide Strukturen) -> ortssensibel (Glokalisierung), aber in global-vernetzten Metropolen. GAFAM; TUI, NIKE, Disney, Netflix, Nintendo, Bertelsmann, LVMH, Kering, TimeWarner, Sony |
Produkte: standardisierte, funktionale Güter: Gesetz der großen Zahl (Skalierungsidee und -not), Identisch in Unendlichkeit |
Affekt-Güter; Marken, Symbole etc. laden Objekte kulturell auf, identitätsstiftend (Klamotten, Brillen, Uhren…) Sie sollen originell, natürlich, einzigartig, rar, echt sein (Authentizitätsperformanz) |
Produktion: Hierarchisch, arbeitsteilig organisiert, Fließband, Austauschbarkeit aller Elemente |
kommunikative Netzwerke, flexible Spezialisierung in Teams und Projekten, nicht austauschbare Elemente: kulturbasierte und -erschaffende Produktion, Wissen |
(Arbeits)Motivation zum Tun: speist sich aus Pflicht- und Akzeptanzwerte, unbefristetes, gesichertes Normal-arbeitsverhältnis, Lebensstandard, Machen, nicht Denken. |
Selbstentfaltungswille und -werte; Lebensqualität im Beruf – Sinnstiftende Arbeit, um Wissen und Expertise einzubringen! Das unternehmerische Selbst, Arbeitskraftunternehmer (Intrapreneur!) |
Qualifikation: fussend auf standardisierte formale Qualifikationen; lückenloser Lebenslauf |
Bewerbung! Profil, Ruf und Reputation -> Aufmerksamkeitsmarkt ; Persönlichkeit, Talente, Kompetenzen -> Singularitätsperformanz. |
Märkte: prinzipiell standardisiert, Leistung u. Preise sind wichtig -> Skalierung! |
Attraktivitäts- und Valorisierungsmärkte; Hyperkompetetiv, vukaesk, spekulativ, winner takes it all!, Aufmerksamkeitsgetrieben, Rankings |
Konsum: Massenkonsum, sozialnormativ geregelt, standardisiert, mittelstandsorientiert und -nivelliert Luxus und Extravaganz nur für Sonderlinge |
Pluralisierung von Konsummustern, Konsum von identitätsstiftenden Kulturgüter (Marken, Symbole); Konsumgüter werden (kuratiert), nicht einfach vernutzt. Aktive Konsument ist Kokreativer, Prosumer… |
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