Die Authentizitätsrevolution

Postmoderne Spannungsfelder der Selbstverwirklichungsidee

Kultursoziologische Einsichten und Konzepte nach Andreas Reckwitz

Institutsentwürfe

Neue Konzepte und Modelle

Institutsentwürfe 2021

Kultursoziologische Einsichten und Konzepte nach Andreas Reckwitz

I. Einleitung

Die Postmoderne (ab ca. 1970er) verdrängt im Wege der Singularisierung und Kulturalisierung die organisierte Moderne wie sie sich seit den 1920er Jahren in den USA und in Westeuropa ausgeprägt hatte. Diese von Reckwitz konstatierte Singularisierung zeigt sich in fünf Einheiten – und zwar in Objekte (Artefakte, v.a. Gegenstände), bei Subjekten, in Räumlichkeiten (Orte, Städte, Naturgegenden etc.) ebenso wie in Zeitlichkeiten (Events etc.) und bei Kollektiven. Sie werden jeweils durch soziale Praktiken aktiviert und beansprucht.  

Reckwitz betont drei Singularisierungstreiber: die soziokulturelle Authentizitätsrevolution, die postindustrielle Kulturkapitalismusrevolution und die mathematisch-technologische Digitalrevolution. Im Folgenden geht es um die soziokulturelle Authentizitätsrevolution.

II. Die akademische Mittelklasse – Trägerin der Authentizitätsrevolution

Die soziokulturelle Authentizitätsrevolution wird getragen von der akademischen Mittelklasse, die zunächst in den 1960er lediglich 5% Bevölkerungsanteil betrug, nunmehr aber in allen westlichen Industrieländern über 30% beträgt. Im Vergleich dazu ist die Industriearbeiterschaft z.B. von ca. 50% in nahezu allen Industriestaaten auf um die 20% der Beschäftigten abgesunken. Studierte sind kein elitäres Randphänomen, sondern – wenn man so will – die „gesellschaftliche Norm“ geworden. Eine Bildungsexplosion unvorstellbaren Ausmaßes. Der Aufstieg der akademischen Mittelklasse zur soziokulturell prägenden Klasse, geht einher mit einem grundlegenden Wandel im Lebensstil und den Lebenserwartungen: Ging es dem Angestellten(-subjekt) in der organisierten Moderne noch um die Erhöhung des (normalisierten) Lebensstandards, so geht es dem postmodernen Subjekt um Lebensqualität und einen authentischen Lebensstil. Die damit einhergehende Suche nach dem individuellen, „echten“, dem eigenen und eigentlichen Leben, wird nunmehr von Kindesbeinen an allseits ermöglicht und gefordert. Das postmoderne Subjekt muss schon sein bestes Leben leben, will es nicht die Ängste und die Scham spüren, diese Chance verpasst zu haben. 

Es ist genau diese Revolution der Authentizität, die den vielbeschworenen Wertewandel wie in einem Brennspiegel bündelt und den Wandel von  Pflichten- und Akzeptanzwerten hin zu den Selbstentfaltungswerten beschreibt. Welche Wurzeln hat diese kulturelle Strömung, die in der Postmoderne zur kulturellen Hegemonie erwachsen ist?

II. Historische Wurzeln des Authentizitätsanspruchs

Die Ideen und soziokulturellen Stränge führen in die Counter Cultures der 1960er zurück, zum Künstlertum der Bohemes zur Jahrhundertwende, deren Idealbild vom Künstler, der stets kreativ, zuweilen chaotisch, immer ich-bezogen und in diesem Sinne asozial in der groß- und kleinbürgerlichen Welt des ausgehenden 19. Jahrhunderts erscheint. Und dennoch, genau dieser Künstlertyp nimmt das Subjektideal der Postmoderne vorweg, in der sich jeder und jede selbst profilierend und präsentierend in den Sozialen Medien zeigt, disziplinübergreifend als kreativ und freiheitsstrebend verstanden wird, sei es in der Kind- und Erwachsenenpsychologie, in der Pädagogik – und in den Lebens- und Arbeitswissenschaften ohnehin.

Doch die Bohemes  sind selbst die Erben des europäischen Sturm und Drangs, der sich an die Romantik des 18. Jahrhunderts anschloss, wohin die Wurzeln des Authentizitätsanspruchs zurückreichen.

Die Romantik entspricht der Logik des Besonderen (doing singularity) und war lange Zeit die weniger bedeutsame Alternative zur Logik des Allgemeinen (Rationalität, Formalisierung, Norm(alis)ierung, Standardisierung etc.). Gesellschaftlich war sie Randphänomen, in der Kunst, speziell der Malerei und der Literatur zu Hause; etwas für Liebhaber, wie man Laien zu nennen pflegte, die die Tätigkeit eben zum Zeitvertreib, aber nicht als ernsthaften Beruf ausübten.

Für die Singularisierungsprozesse, die seit den 1970ern die Dominanz in den „westlichen Kulturen“ übernommen haben, ist die Kultur der Romantik daher nicht zu überschätzen. Die Romantik ist kulturell die erste radikal singularisierende Gegenbewegung und strebte das „echte“, authentische Leben an. Sie stemmte sich gegen die Modernität des Allgemeinen, deren Standardisierungen, Normalisierungen, Einordnungen, wie sie vor allem im Rahmen der Aufklärungsphilosophie vorgenommen wurde und gegen die „gleichmachende“ und „organisierende“ Industrialisierung der Produktions- und Wirtschaftsweise.

Die romantische Besonderheitskultur entdeckte vielmehr die Eigenkomplexität in Allem, erprobte die „Wiederverzauberung der Welt“, die die Naturwissenschaften entseelt habe. Romantik war (und ist) Kulturalisierung und Valorisierung der Welt, Singularisierung schlechthin. Doch Valorisierung von Phänomenen geht immer auch mit Entvalorisierungen von anderen Phänomenen einher. Und dies betrifft keineswegs nur  Menschen („kreativer Künstler“, Industriearbeiter) , sondern auch Dinge und Objekte (Konsumrevolution im 19. Jahrhundert!), Zeitlichkeiten (postmoderne Eventkultur) und Räumlichkeiten (dunkles Mittelalter, entseelte Wissenschaften, verderbende Wirtschaft) sowie Kollektive (Nationen, Volk, Fremde). Hier werden sich späterhin Kultur- und Valorisierungskämpfe abzeichen.

III. Authentizitätsanspruch als Ideal der Selbstverwirklichung

Maßgebend in dieser kulturellen „Linie“ ist die Kreation und Bedeutung der persönlichen, vor allem emotionalen Innenwelt des Menschen. Sie wird deklariert als einzigartig, individuell und damit unteilbar, gewissermaßen auch unmitteilbar, fern jeder funktionalen Logik, aber dennoch (immer weiter) entfaltbar. Kernantrieb der Romantiker, auch im Sturm und Drang und bei den Bohemes ist die Entfaltung des Selbst. Es geht – nach dieser Vorstellungswelt – im Leben darum, diejenige Person zu werden, als die man (im Grunde, eigentlich) gemeint ist, das wahre Selbst zu belebend; sein bestes Leben zu leben, weil man es kann, darf – und sich und den anderen letztlich auch schuldig sei.

Doch ein wichtiger Aspekt hat sich in dieser kulturellen Verlaufslinie gewandelt: Die Selbstverwirklichungs-bestrebungen in der postmodernen Welt (ab 1960er) sind nicht mehr mehr gegen die Welt gerichtet – und brauchen das auch nicht mehr. Während die Counter Cultures noch gegen das gesellschaftliche „Establishment“ gerichtet sein musste, ist seitdem die kulturelle Hegemonie von den (romantischen) Selbstentfaltungswerten übernommen worden. In der Pädagogik und in den Erziehungswissenschaften, in den Beratungs- und Lebenswissenschaften, überall ist der Anspruch auf die Selbstentfaltung des Individuums unbestritten und wird gefördert und gefordert. Selbstverwirklichung ist frei und selbst gewählt, soll aber sozial anerkannt sein. Ursprünglich ist dieses SELBST, das nach dem Eigenen, Innersten strebt, eine Erfindung der Romantik und wurde u.a. von den Humanistischen Psychologien der 1950er und 1960er Jahre szientifiziert: Maslows Selbstwachstum, Selbstrealisation und Selbstaktualisierung oder bei Berne und dessen Transaktionsanalyse, in der das oberste Ziel Autonomie ist.

Zweitrangig ist dabei, ob diese Selbstverwirklichung im Wege einer vielbeschworene Reise nach Innen erfolgt, bei der das Selbst Gegenstand intensiver Selbstexploration ist, ob im Zen, beim Pilgern, beim Basteln, Lesen oder Musizieren oder auch im Aikido oder lebenslanger Therapie (Stadtneurotiker).

Die Selbstentfaltung kann aber auch das noch unterentwickelte Selbst durch eine Reise in die globalisierte Welt  ermöglichen, stets auf die Suche nach authentischen, entfaltenden Erfahrungen. Selbstverwirklichung wird performativ. Das Subjekt findet sich nicht nur, sondern wird überhaupt erst im Umgang mit der Welt. Dabei wirken die einzelnen Praktiken valorisierend auf die Einheiten von Objekte, Zeit, Raum, Kollektive): Ich bin’s mir wert!  Essen muss ethisch sauber sein, Freunde political correct, Berufe sinnstiftend und wertvoll, Urlaube authentisch und green, Partnerschaften sollen bereichernd und Kinder erfahrungsbringend sein. Das Leben wird kuratiert, performativ, muss in Szene gesetzt werden – Social Media Profile!

IV. Paradoxien und Spannungslagen

Das authentizitätsfixierte Selbst der Postmoderne lebt unter innerer Spannung. Natürlich ist es möglich, diese Spannungen mit einem noch mehr vom Selben, noch mehr Innerlichkeit, noch mehr Reisetätigkeit zu beheben zu versuchen. Doch damit wird man der Tragweite der Problematik keineswegs gerecht. Denn die Paradoxie wird nicht beachtet, die der Authentizitätsanspruch mit sich bringt.

Zwar ist die Diagnose, dass heute kaum noch wirklich rebelliert werden kann gegen die Alten, nicht originell, aber die Paradoxie postmoderner Selbstentfaltungsansprüche wird damit noch nicht vollends deutlich: Es ist in der postmodernen Welt nicht nur nicht so, dass sich das Subjekt nicht mehr gegen die Gesellschaft entfalten muss, diese Gesellschaft fordert sogar immer und überall die Selbstverwirklichung und valorisiert – wie gesagt – Authentizität.

  • Jetzt wird es tragisch, denn die Gesellschaft beobachtet, interpretiert und bewertet, wer und was authentisch ist und wer und was nicht. Authentizität ist nicht mehr Selbstbehauptung des Subjekt gegen die ohnehin normalisierte, standardisierte Gesellschaft, sondern (auch) eine Zuschreibung, so dass Authentizitätsbemühungen auch abgeschrieben werden können, fake sind, affektiert, aufgesetzt, falsch und fad.
  • Das postmoderne Subjekt gerät in einen nahezu unlösbaren Double Bind: Es will authentisch sein, aus sich selbst heraus etwas tun, unabhängig von gesellschaftlichen, familiären Normen und Standards und dennoch, nein, und deshalb die Anerkennung und gewissermaßen Ratifizierung der Gesellschaft für diese Selbstentfaltung. Hier vereinigen sich zwei kulturhistorisch widerstrebende Strömungen zu einer paradoxen Symbiose: Einerseits das Subjekt des modernen Bürgertums, das oftmals persönliche Wünsche hintanstellte, um konventionell und pflichtenbewusst, sozial anerkannt einen auskömmlichen Lebensstandard zu erreichen. Andererseits das Schicksal des romantischen Subjekts, das am Rande der Gesellschaft ein oftmals asoziales Dasein fristete, sich dafür aber experimentell ausprobieren konnte.

Exkurs zur (kultur-)soziologischen Methodik

Quadrat der praxeologischen Kulturanalyse

Auf diese drei Faktoren der gesellschaftlichen Transformation werde ich in den nächsten Institutsentwürfen eingehen.

  • Reckwitz, A.: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderen zur Postmoderne, überarbeitete Neuauflage der Originalauflage von 2006; 2020.
  • Reckwitz, A.: Kreativität und soziale Praxis. Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie, Bielefeld 2016.
  • Reckwitz, A.: Die Gesellschaft der Singularitäten, Berlin 2017.
  • Reckwitz, A.: Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019.
  • Schäfer, H.: Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm, Bielefeld 2016.
  • Taylor, Ch.: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt am Main 1994, 10. Auflage, 2018.
  • Taylor, Ch.: Das Unbehagen an der Moderne, 1995, 11. Auflage 2020.