Zeitenwende - auch für die Mediation?

INKOVEMA-Roundup 2022 (# 07)

Dieses Jahr geht es selbstverständlich um den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Dieser stellt – nicht nur nach den Worten des deutschen Bundeskanzlers – eine „Zeitenwende“ für Europa und die Welt dar. Wir wollten in diesem INKOVEMA-Roundup 2022 die Einschätzungen von Kolleg*innen einholen, ob und in welcher Form diese Zeitenwende auch für die Mediation und Mediator*innen hier in Deutschland, Österreich oder Schweiz Auswirkungen hat. Einige, d.h. keineswegs alle, genau genommen nur sehr wenige Kolleg*innen haben sich in diesem Jahr geäußert bzw. auf unsere Bitte hin auch nur reagiert. Das war dieses Mal spürbar anders als bei unseren bisherigen Roundup-Posts. Insoweit dürfte auch wichtig sein zu lesen, was noch nicht geschrieben steht – aber vielleicht alsbald in die Debatte eingebracht wird.

Wir haben dieses Mal folgende Frage vorgelegt:

Was bedeutet die Zeitwende, ausgelöst durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, für die Mediation und uns als Konfliktberater*innen und Mediator*innen?

Lesen Sie im Folgenden die Antworten.

1. Christoph Frey

Baden-Baden

Diplompsychologe, Trainer, Coach, Buchautor
Website: www.wortfolio.com

Was bedeutet die Zeitenwende, ausgelöst durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, für die Mediation und uns Konfliktberater*innen und Mediator*innen?

Mögliche Auswirkungen liegen ja auf mehreren Ebenen (die sich freilich nur in der Theorie, aber kaum im konkreten Fall sauber voneinander trennen lassen):

Auf der Ebene der Beteiligten: Klient:innen und Mediator:innen könnten an Konflikte anders herangehen bzw. bestimmten Formen der Konfliktlösung mehr oder weniger zugänglich sein.

Auf der Ebene der Mediationsanlässe: Andere Themen könnten als Folge im Vordergrund stehen. Beispielsweise könnten häufiger Fälle zur Mediation kommen, die unmittelbar mit Auseinandersetzungen zwischen Angehörigen der Kriegsparteien im weitesten Sinne (also nicht nur Russland oder Ukraine) zu tun haben.

Auf der Ebene des gesellschaftlichen Umgangs mit Konflikten, der sich als Folge der angesprochenen Zeitenwende verändern mag, was sich wiederum auf Mediator:innen wie auf Klient:innen auswirken mag.

Auf der Ebene der gesetzlichen Rahmenbedingungen, die sich als Folge der Zeitenwende verändern könnten.

Sicher ist (das wissen wir aus den Erfahrungen vergangener Kriege), dass kriegerische Auseinandersetzungen sich auswirken auf das Denken, Fühlen, Wahrnehmen und Handeln der betroffenen Menschen.

Dazu gehört in unterschiedlicher Ausprägung: Grundlegende Werte und Maximen (Überleben!) gewinnen an Bedeutung. Ambiguität wird weniger wahrgenommen, Eindeutigkeit bevorzugt. Zwischentöne spielen ebenso eine geringere Rolle wie entfernter liegende Ziele. Emotionen werden eher unterdrückt, da sie häufig als bedrohlich wahrgenommen werden. Schuld und Scham spielen in Abhängigkeit von der letztendlichen Lösung des Konflikts eine enorme Rolle (man denke an die Generationen der Täter und der Opfer der Naziherrschaft in Deutschland). Und nicht zuletzt wird Gewalt als Mittel der Konfliktlösung akzeptabler.

Ob und inwieweit das auch für Mediationsprozesse in Deutschland eine Rolle spielen wird, vermag ich nicht zu sagen. Sicher für solche Prozesse, an denen Menschen beteiligt sind, die unmittelbare Kriegserfahrungen (sei es als direkt Betroffene oder als Angehörige von Tätern oder Opfern) gemacht haben. Erst recht, wenn Angehörige beider Kriegsparteien am Tisch sitzen.

Aber ich will ehrlich sein: Ich weiß schlicht nicht, ob und in welcher Weise die angesprochene Zeitenwende Auswirkungen auf Mediation, Mediator:innen oder Klient:innen haben werden. Ich wünschte, ich könnte an dieser Stelle Erhellenderes oder zumindest Bedenkenswertes schreiben, aber ich kann nicht. Zumindest nicht, solange dieser Krieg auch für mich selbst noch aktuelle, bedrückende Realität ist.

2. Sabine Krause

Köln

Diplom-Ökonomin, Mediatorin, Moderatorin,
Trainerin und Coachin
Website: www.krausemediation.de

Wo Krieg ist, ist auch Frieden. Ich erlebe, dass der Blick auf das Weltgeschehen – ausgelöst durch den Krieg in der Ukraine – das Konflikt- und Friedensbewusstsein weiter schärft.Zum einen erlebe ich einen Anstieg an Anfragen zum anderen erlebe ich ein Mehr an emotionalen Belastungen bei meinen Medianten (besonders im Gesundheitswesen). Dünnhäutigkeit, Gereiztheit bis hin zur Resignation und Frustration sind alltägliche Begleiter geworden.Diese Zeitenwende fördert und fordert die Mediation gleichermaßen. In Gesprächen über Krisenzeiten beispielsweise erhält die Mediation einen großen Stellenwert und kann somit gefördert werden. Gefordert wird die Mediation dahingehend, dass sie noch weniger Problemaktivierung als mehr Ressourcenaktivierung berücksichtigen sollte.

3. Dr. Jürgen von Oertzen

Karlsruhe

Politologe, Mediator, Trainer
Webseite: www.einigungshilfe.de

Eines, was Mediator*innen manchmal tun, ist Reframen. Oder in diesem Fall genauer: Die Hypothesen, die notwendigerweise hinter jeder Frage stecken, zu problematisieren. Und das ist auch mein Anliegen, wenn ich diese Frage höre:

„Russlands Angriffkrieg“: Ich möchte diesen Angriffskrieg nicht Russland zurechnen, sondern Putin und seinem Subsystem. Neulich in einem Spiegel-Podcast sprach ein Militärexperte gar von „der Russe“. Den Krieg, den ein autoritärer (allerdings mit Mehrheit gewählter) Staatsführer anordnet, möchte ich weder dem ganzen Land mit all seinen Menschen, seiner Kultur usw. zurechnen. Und schon gar nicht „dem Russen“ schlechthin – eine Formulierung, die Schubladendenken zeigt und fördert, und damit auch den Krieg.

„Zeitenwende“: Ich verstehe es noch immer nicht. Wieso ist der 16. weltweite Krieg dieses Jahres, der – je nach Zählung – 4. Angriffskrieg Putins, ausgerechnet dieser spezielle Krieg eine Zeitenwende? Eine Zeitenwende scheint mir hingegen in der Tat eingeleitet durch Scholz‘ Beschluss, eine riesige Umschichtung im Bundeshaushalt vorzunehmen, die keine der an der Regierung beteiligten Parteien vorher angekündigt, die also von keiner Wählerin so autorisiert ist. So verständlich diese Angst-Reaktion psychologisch ist, und egal wie unsinnig sie mir scheint militärstrategisch, wenn es um eine Verteidigungsbereitschaft gegenüber nuklear bewaffneten Staaten geht, so ist jedenfalls bemerkenswert, dass diese Summe ohne jede demokratische Beteiligung festgelegt wurde. Das ist mal eine Zeitenwende!

Eine Zeitenwende erkenne ich auch in dem viele Teile der Welt und viele Teile unserer Gesellschaft erfassten Zusammenhalt in Solidaritätsbekundungen für und praktischer Unterstützung von Ukrainer*innen, und in der relativ großen Entschlossenheit, Finanz- und Wirtschaftssanktionen zu verhängen. Wenn das funktioniert – und es scheint so, dass zumindest einige Oligarchen unter diesem ökonomischen Druck auf Putin und Selenski kriegsbegrenzend einwirken – was wäre das für ein Erfolg, für ein Vorbild für eine nicht-militärische Verteidigung gegen Angriffskriege! Das wäre mal eine Zeitenwende, wie ich sie kaum zu erträumen gewagt hätte.

Für Mediator*innen ist es eine riesige Herausforderung, in diesem gesellschaftlichen Umfeld weiter grundsätzlich kooperativ orientiert zu bleiben, zu differenzieren zwischen Handlungen und Menschen, die eigene Angst anzuerkennen, aber sich nicht von ihr leiten zu lassen, und weiter für Frieden zu arbeiten zwischen Menschen und zwischen Ländern. 

Was dazu im Detail zu tun ist, dazu hat, denke ich, Friedrich Glasl im großen Trigon-Interview alles gesagt.

4. Dr. Katarzyna Schubert-Panecka

Karlsruhe

Supervisorin, Business Coachin, Climate and Executive Coach
Website: www.schubert-panecka.eu

I. Was eine „Zeitwende“ zufolge des Angriffskrieges für Mediation und Konfliktberater*innen und Mediator*innen bedeuten könnte, wird wahrscheinlich erst mit einer gewissen zeitlichen Distanz valide zu beantworten sein. Aus der heutigen Perspektive, in Juni 2022, kann zunächst eine kritische Reflexion des eigenen Handlungsfeldes und Repertoires bestätigt werden. Diese Reflexion hat für manche schon lange, für manche erst neulich die Fragen eingeschlossen, wie, wann und wo 

  1. die professionelle Konfliktbearbeitung von wem angeboten und durchgeführt werden kann (vgl. Maiwald, Professionalisierung der Mediation 2016)
  2. mediative Haltung ausgelebt werden kann, wenn diese primär eine humanistische bis pazifistische Perspektive auf die Konfliktbearbeitung enthält, als auch 
  3. welche Möglichkeiten und Grenzen von Mediation als Handlungsoption und/oder Verfahren deutlicher gemacht werden könnten. 

Persönlich würde ich die Zeitwende etwas anders als auf den 24.02.2022 „verorten“ und den Angriff vonseiten Putin als einer Art Zuspitzung dieser, zugleich eine interessante Symbolik betrachten. Seit vielen Jahren finden Kriege auf der Welt und auch in Europa statt. Die darin ausgetragenen Konflikte sind vielen von uns dennoch weniger aktuell und gefährlich erschienen, als die humane – und klimatische – Katastrophe in der benachbarten Ukraine. Die aktuell beobachtbare Betroffenheit lässt sich verschiedentlich erklären. Sie lässt zugleich  Fragen zu, welche unsere Integrität und Verantwortlichkeit adressieren, wie sie zum Beispiel Froese mithilfe von Levinas im Kontext von Mediation aufschlussreich beschreibt. An dieser Stelle würde ich daher die Klarheit der eigenen Werte und daraus folgenden Anspruch auf Integrität als auch den Umgang mit einer Art Erschütterung von gewissen Idealen erwähnen. Samt der Frage, was an der Selbstbeschreibung von MediatorInnen und entlang der Pluralität von Professionen wie auch von Komplexität der Probleme, mit denen Parteien MediatorInnen aufsuchen, nachjustiert werden könnte. Ob bei mediatorischem Handeln in konkreten Verfahren oder Einsetzen von mediativen Kompetenzen in sozialen Interaktionen, wie aktuell bei Spannungen zwischen Familienangehörigen, FreundInnen oder Gastfamilien und Geflüchteten. Dazu gehören auch Fragen wie: Welche Art von Neutralität, welche Mehrparteilichkeit und Grenzen gegenüber militärischen Aktionen verspüren wir? Wo sind wie gefragt, mit wem und wann – über diese und andere Fragen könnte im kollegialen und gern interdisziplinären Kontext nachgedacht werden, um einen klareren Blick und auch Angebot ausbreiten zu können. 

II. Für mich persönlich ist der Angriff auf die Ukraine auch mit einem Gefühl von Rückschlag verbunden gewesen, dem eine schmerzhafte Erinnerung und Anteilnahme an die Geschichte innewohnte. Nach nun fast drei Dekaden persönlicher und professioneller Arbeit an der Verständigung über die Grenzen hinaus hat dieser eine Zäsur ausgemacht. Zugleich und weil ich an vielen Stellen seit Jahren den Einfluss von mehreren beinahe gleichzeitig stattfindenden Krisen wahrnehme, kann ich diesen kaum als einen einzelnen Auslöser für Veränderung im mediativen Handeln wahrnehmen (dazu haben wir uns in der Perspektive Mediation bemüht, unterschiedliche Perspektiven aufzunehmen). Außer den militärisch ausgetragenen Konflikten haben wir weltweit und zunehmend mit diesen zu tun, die dem menschlichen Handeln im Kontext des Klimawandels folgen. Unter anderem. Die Hitzewellen, Konflikte um grundlegende Ressourcen wie Zugang zum Wasser und Nahrung (Stichwort Klimagerechtigkeit), schwächelnden Demokratien, Vulnerabilität von vielen Geschäftszweigen und vieles mehr scheinen manchen zwar noch weit weg zu sein, ähnlich der Kriege noch vor wenigen Jahren. Dabei haben sie längst einen Einzug in unsere Realitäten genommen und das auch im Mediationskontext. Ob während der Konfliktbearbeitung zur Unternehmensnachfolge, Erbschaft oder Pflege; ob in B2B oder betriebsinternen Konflikten, ob bei Energiewende oder Umgang mit den Geflüchteten vor Ort – in all den Situationen sind die Auswirkungen der globalen Themen und Interkonnektivität längst sichtbar und für unsere Praxis von Bedeutung. Will man/frau hinsehen, wird auch schnell erkennbar, dass wir gut beraten sind, diese Einflüsse im Prozess der Konfliktbearbeitung zumindest zu kennen. Oder- wie dies beispielsweise die meisten internationalen Coachingsverbände organisiert haben – die Qualitäts- und Kompetenzstandards so zu formulieren, dass die soziale Verantwortung zu den ethischen Standards gehört (vgl. ICF Ethische Standards und Statement of the Coaching Climate Alliance). 

III. Zuallerletzt: Menschen und Organisationen, die wir als MediatorInnen begleiten, haben mit den Auswirkungen dieser Krisen und anderer Phänomene mehr oder minder bewusst tagtäglich zu tun. Was würde daher sinnvoll sein, in unser Repertoire aufzunehmen, um nachhaltige Unterstützung anbieten zu können (ohne dabei zu pathologisieren oder zu diagnostizieren, zugleich die Auswirkungen dieser Prozesse auf Konflikte kennen, vgl. Schubert-Panecka 2022 in mediation moves)?

5. Imke Trainer

Köln


Mediatorin BM®
Trainerin für Gewaltfreie Kommunikation
Website: www.rheinmediation.de

„Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden“ Sören Kierkegaard (1813-1855)

Ich stelle gerade fest, dass der Ukraine-Krieg bereits Konflikte in Familien ausgelöst hat, die ich nun in meinen Familienmediationen bearbeite. 
 
Auf die Frage: Was bedeutet die Zeitenwende, ausgelöst durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, für die Mediation und uns Konfliktberater*innen und Mediator*innen? weiß ich ganz ehrlich keine Antwort: Es scheint mir unmöglich, im Mai 2022 die Frage zu beantworten, was der jetzige Krieg Russlands gegen die Ukraine in der Konsequenz für die Mediation und uns Mediator:innen bedeuten wird. 
 

Wie gehe ich damit um?

In Zeiten von Desorientierung hilft mir das In-Mich-Hineinspüren und das Beobachten. Daher konzentriere ich mich auf meine Wahrnehmung und fasse zusammen, was ich im Hier und Jetzt sehe, höre und lese. In den sozialen Medien fallen mir  – neben den zahlreichen Hilfs- und Unterstützungsangeboten – nun zunehmend Posts auf, in denen wir Mediator:innen uns schärfer als sonst gegenseitig widersprechen, wenn es um den Krieg Russlands gegen die Ukraine geht. Ich lese, dass wir uns gegenseitig Vorwürfe machen, wenn wir uns inhaltlich zum politischen Umgang mit Russland äußern. Was ich meine zu beobachten, ist ein allgemeines Ringen von uns Mediator:innen um die „richtige“ Haltung angesichts dieses Krieges.

Und ich frage mich: Befinden wir uns schon in einem Parallelprozess? 

Angesichts der Tatsache, dass wir Mediator:innen scheinbar schon begonnen haben, über ein „Richtig“ und „Falsch“ zu sprechen, ziehe ich für mich die Schlussfolgerung, dass ich mir zwei Dinge wünsche.

Erstens: Eine Rollenklarheit. Spreche ich gerade als Mediator:in aus meiner beruflichen Rolle oder treffe ich Aussagen als Privatmensch unter Einbeziehung meiner individuellen biografischen Sicht auf die Dinge?

Zweitens: Ich wünsche mir eine Rückbesinnung in der Mediation und von uns Mediator:innen auf unsere Kernkompetenz. Und unsere Kernkompetenz ist das differenzierte Denken und die Konfliktarbeit. Wir können und dürfen uns in diesem Krieg positionieren und zwar immer (!) für die Konfliktbearbeitung. Welche Ansicht wir vertreten, wie diese Konfliktarbeit genau aussehen soll, bleibt uns überlassen und ist von Mediator zu Mediator:in verschieden.

Die Fragen, die sich uns aus meiner Sicht daher heute in Europa stellen, sind unter anderem diese:

– Wie bringen wir in Zukunft mehr mediatorische Kompetenz in die Welt?

– Wie finden wir auf internationaler Bühne einen geeigneten politischen Akteur, der als Mediator:n fungieren kann?

– Wie begleiten wir durch den Krieg ausgelöste, gesellschaftliche Konflikte vor unserer Haustür?

– Wie schaffen wir Raum für Austausch, um über den Krieg zu sprechen, so dass aus den Gesprächen Versöhnung entsteht?

– Wie bekommen wir selbst Klarheit darüber, welche (gesellschaftlichen) Kämpfe wir als Mensch und als Mediator:innen ausfechten möchten?

Und ganz pragmatisch: Wie sorgen wir in unserem (mitteleuropäischen) Alltag für eine Praxis der Selbstempathie und Selbstfürsorge, damit wir unseren Auftrag als Mediator:innen weiterhin gut ausfüllen und von der Konfliktenergie, die in der Luft liegt, nicht angesteckt werden?

6. Dr. Sascha Weigel

Leipzig

Rechtsanwalt, Mediator, Konfliktberater
Initiator der Roundup-Posts

  • Die lange Friedenszeit in Europa ist vorbei. Die Zeit der vergangenen 30 Jahre, in der die Mediation in Deutschland ankommen und wachsen konnte, ist damit endgültig passé. Europa wird – vor allem im Osten – militärisch hochgerüstet werden. Wir werden eine neue, viel umfangreichere Mauer haben – und dieses Mal in Deutschland alle miteinander westlich von ihr leben und arbeiten. Dies dürfte den Rahmen für die Zukunft der  Mediation in Deutschland bilden.
  • Vielleicht sind sogar paradoxerweise positive Entwicklungen für die Mediation dabei. Erforderlich scheint mir, dass wir Mediator*innen dafür mitunter schwere Kränkungen anerkennen und (sodann!) transformieren müssen. Bereits die Verrechtlichung und Vergesetzlichung der Mediation (2012) empörte und ernüchterte nicht wenige Mediationsgemüter, doch 2017 mit dem Evaluationsbericht, der kaum nennenswerte Mediationstätigkeiten feststellte, zogen sich große Teile der Szene auf „methodische Unzulänglichkeiten“ zurück – wohlwissend, dass der Kern des Datenmaterials kaum von der Hand zu weisen war. Doch von einer ganz anderen Dimension von Kränkung und mentaler Irritation kam es durch den russischen Angriffskrieg auf die gesamte Ukraine . Dieser Kriegseinbruch im Osten Europas ausgerechnet(!) durch Russland, um das sich das friedensbewegte Deutschland mit mediativen Gedanken und kooperativen Verhandlungsansätzen (weit über das Maß an erträglichem Sicherheitsrisiko hinaus!) so bemüht hat.
  • Hier hat die Debatte dazu noch kaum unter Mediator*innen begonnen. Hier dürften sich Konfliktlinien auftun, die das allgemein gültige Konzept von Mediation gehörig durchrütteln und aktualisieren würden: Was zählt die Freiheit und Selbstverantwortlichkeit von Konfliktparteien, wenn ein Aggressor nicht mit den Mitteln des Rechts und der Hoffnung zur Räson gebracht werden kann? Wie weit trägt das Konzept in der Wirklichkeit, dass die wahren Interessen und eigentlichen Bedürfnisse immer zu einer friedlichen Koexistenz gebracht werden können – im Angesicht von imperialistischen Interessen? Stimmt das mediative Menschenbild mit der Realität überein?  Oder kurz und knapp: Ist Mediation eine Alternative zum Recht oder nicht vielleicht doch eher eine Blüte gelebten Rechts?
  • Möglich ist, dass die Mediationsbewegung hieraus profilierter, gestärkter und selbstbewusster hervorgeht. Dafür scheint es erforderlich, das „Glaubenselement“ innerhalb der Mediationsbewegung abzulegen, um die kontextgebundenen Stärken ausleben zu können.
  • Zu hoffen bleibt, dass sich diese Zeitenwende nicht in einer technisch angelegten Geeignetheitsdebatte 2.0 niederschlägt.

7. Florian Winhart

Karlsruhe

Diplompsychologe, zertifizierter Mediator und Transaktionsanalytiker, systemischer Coach
Website: www.piri-piri.consulting

Zwei Aspekte fallen mir dazu ein:

1. Mediation kommt zu spät -> Präventive Mediation muss viel stärker ins Bewusstsein gelangen und viel früher greifen. Vielfach werden wir Mediator*innen erst hinzugezogen, wenn die Konfliktdynamik bereits soweit fortgeschritten ist, dass mit Mediation kaum noch etwas zu bewirken ist. Die Grundgedanken und Voraussetzungen von Mediation müssen daher viel tiefer und breiter im gesellschaftlichen Bewusstsein und vor allem: in der Alltagskommunikation verankert werden. Konflikte überhaupt „wahr“ zu nehmen und zu adressieren ist als Fähigkeit immer noch nicht besonders weit verbreitet, ist aber die Grundvoraussetzung für eine konstruktive Auseinandersetzung. Gleichzeitig gilt es die Grenzen von Mediation aufzuzeigen und stärker zu betonen. Wie auch in anderen Beratungsformaten (Coaching, Supervision, etc) müssen die Schritte von den Mediant*innen gegangen werden. Wenn dieser Wille oder auch die Fähigkeit dazu nicht vorhanden ist, muss Mediation sich zurückziehen (können) und damit klarstellen, dass die Verantwortung für den Umgang mit dem Konflikt bei den Konfliktparteien liegt. Mediation zu wünschen, ohne etwas dafür zu tun, ist auch eine Entscheidung, sollte aber von der / vom Mediator*in nicht mitgetragen werden.

2. Ukraine-Krieg als Thema in der täglichen Beratung: Nach Jahren der subjektiv erlebten Häufung von Katastrophen, Einschränkungen, Kriegen, Pandemie etc., ist die darauf zurückgeführte Belastung viel eher Thema in Beratungssituationen (Coaching, Organisationsentwicklung, Mediation). Führungskräfte klagen über Mitarbeiter*innen, die davon betroffen sind, Mitarbeiter*innen fühlen sich noch mehr allein gelassen als sonst und selbst wenn sie nicht direkt von z.B. dem Ukraine-Krieg betroffen sind, so kennt doch jede/r jemanden, der betroffen ist. Nach zwei Jahren Pandemie haben viele Menschen ihre persönlichen Ressourcen aufgebraucht und können mit weiteren Belastungen – z.B. durch einen Angriffskrieg auf europäischem Boden – kaum umgehen. Im Alltag zeigt sich das in vielen Facetten – schlussendlich haben auch diese Entwicklungen dazu beigetragen, dass ein Termin beim Psychotherapeuten immer schwieriger zu bekommen ist. Als Mediator*innen haben wir Verantwortung, diesen Menschen mit Sensibilität und Empathie zu begegnen und das Verfahren und das setting für Mediation so zu gestalten, dass es nicht auch noch als zusätzliche Belastung empfunden wird. Vielmehr kann Mediation auch hier schon entlastend wirken und damit einen Beitrag für das subjektiv empfundene Wohlergehen leisten.