Kein Grund zur Klage?! Rückgang der Klageeingangszahlen bei deutschen Gerichten – 5 Erklärungsansätze und kein gesichertes Wissen

 

Heute geht’s ans Eingemachte. Nicht nur, dass an deutschen Gerichten immer weniger geklagt wird und die Klageeingangszahlen seit über 10 Jahren im dramatischen Sinkflug sind – nein, auch die „Gürteltiere“ sind damit vom Aussterben bedroht!

Bevor jetzt die Tierschützer_innen unter Ihnen von der Couch aufspringen und eine online-Petition organisieren, sei noch schnell gesagt, dass hier nicht die Tiere, sondern die Aktenberge gemeint sind, die sich in deutschen Gerichten stapeln und lediglich mithilfe eines Riemens zusammengehalten werden können. Sie werden von den JuristInnen liebevoll „Gürteltiere“ genannt, was wohl mehr über die Jurist_innen, als über die Aktenberge aussagt. Wie auch immer, um genau diese Aktenberge geht es. Sie schmelzen wie die Polkappen und für Nachschub scheint nicht gesorgt, wenn man den (dürftigen) Zahlen glauben schenken darf…

 

Nach der viel diskutierten Prozessflut der 1970er bis 1990er Jahre befinden sich die Klageeingangszahlen seit Jahren im Sinkflug.

 

Anlass für diesen Blogbeitrag bietet eine bemerkenswerte Entwicklung, die bislang – was fast genauso bemerkenswert erscheint – vergleichsweise wenig Beachtung gefunden hat: Nach der viel diskutierten Prozessflut der 1970er bis 1990er Jahre befinden sich die Klageeingangszahlen seit Jahren im Sinkflug. Und das zum Teil drastisch.

Warum gibt es immer weniger Klagen? Was bedeutet das für die deutsche Justiz, die Politik und Gesellschaft insgesamt? Und was hat das mit Mediation und Mediator_innen zu tun? Zu Beginn eine kurze Bestandsaufnahme.

1) Sag mir, wo die Klagen sind! – Situation und Problem

Die Kräfte der Gezeiten

„Ebbe und Flut, Wellen und Gezeiten.“ Wenn Prozessrechtler_innen über die historischen Entwicklungen von Klageeingängen sprechen, dann wird viel Meeresmetaphorik bemüht. Hintergrund dürfte nicht nur die Beobachtungen der Vergangenheit sein, die damit ganz gut beschrieben werden können, sondern auch die Hoffnung, dass die Zukunft ebenso wellenartig verläuft. Dann erscheinen Sorgen weniger begründet und irgendwelche Gegenmaßnahmen als überflüssig…und können – mit der Erkenntnis des Wissenden – belächelt werden. Aber ist es so, dass die Zukunft so (sicher) ist wie die Vergangenheit?

Seit den 1970er Jahren erlebten die deutschen Gerichte eine wahre Prozessflut. Deutsche galten seither als Prozesshanseln, prozessgeil und unverbesserlich. Seit diesen Jahren wurde auch versucht, dieser Flut mit einer Reihe von Reformgesetzen Herr zu werden. Die Klagewelle sollte eingedämmt werden und die Justiz entlastet. Und seit etwa 2000 erlebt Deutschland eine regelrechte Prozessebbe. Lange verkannt, mittlerweile nicht mehr zu bestreiten.

Die Gezeitenwende ist jetzt schon mit eindrucksvollen Zahlen belegbar: An der Zivilgerichtsbarkeit (Amts- und Landgerichten in erster Instanz zusammengenommen) nahmen die Eingänge in den Jahren zwischen 1995-2014 um 34 % ab. Seit 2000 gingen sie um etwa 25 % zurück. Interessant ist auch der Einbruch bei den Mahnverfahren. Davon gab es innerhalb von 10 Jahren (2002 bis 2012) rund 33 % weniger.

Betrachtet man die einzelnen Sachgebiete im Zeitraum zwischen 2004 und 2012, sind es bei den Amtsgerichten insbesondere Bau- und Architektensachen (-40 %), gesellschaftsrechtliche Verfahren (-35 %) und Nachbarschaftsstreitigkeiten (- 28 %), die deutlich weniger wurden.

Am dramatischsten ist der Rückgang jedoch bei den Verfahren, die unter der undurchsichtigen Rubrik „sonstige Zuständigkeiten“ zusammengefasst werden. Dies gilt sowohl was den prozentualen Anteil im Jahresvergleich angeht (-44 %), vor allem aber auch im Bezug auf die absoluten Eingangszahlen. Sage und schreibe 300.000 Verfahren weniger sind in diesem Bereich zu verzeichnen. Zum Vergleich: bei den Bau- und Architektensachen waren es absolut „nur“ etwa 11.000 Verfahren weniger.

Hochseefischen im Trüben

Der Großteil des zu beobachtenden Phänomens bleibt unerklärt. Es besteht gewaltiger Informations- und Aufklärungsbedarf.

Dass die größte Prozessebbe in einem Gebiet zu beobachten ist, das den nicht wirklich aufschlussreichen und aussagekräftigen Titel „sonstige Zuständigkeiten“ trägt, weist auf ein ganz allgemeines Problem hin: Der Großteil des zu beobachtenden Phänomens bleibt unerklärt. Es besteht gewaltiger Informations- und Aufklärungsbedarf. Will man den Ursachen des Rückgangs wirklich auf den Grund gehen und Kausalzusammenhänge beschreiben, bräuchte es wissenschaftlich belastbare Daten. Derzeit gleicht die Auseinandersetzung aber eher einem Fischen im Trüben. Aufschlussreich war bisher vor allem das 2015 an der MLU Halle ausgetragene Symposium und der gleichnamige Tagungsband „Nichts zu klagen?!“, herausgegeben von Prof. Meller-Hannich und Prof. Höland. Soweit ersichtlich – echte Pionierarbeit!

 

2) Wo sind die klagewütigen Deutschen geblieben?! – mögliche Erklärungsansätze

Bei aller Ahnungslosigkeit bezüglich der Hintergründe, bleibt der Fakt dennoch bestehen: Es wird dramatisch wenig geklagt im Vergleich zu früher! Und die Ursachen können wir aktuell nicht nachvollziehen, besprechen oder gar verstehen. Weil wir keine aufschlussreichen Daten besitzen und detaillierte Informationen nicht abgesichert sind. Das trifft nicht generell zu, aber im Großen und Ganzen können wir allenfalls Hypothesen bilden, die im weiteren Verlauf das Erkenntnisinteresse leiten und ggf. widerlegt werden können.

 

Erklärungsansatz Nr. 1 – Demographie

Weniger Menschen, weniger potentielle Kläger? Das klingt schlüssig. Und tatsächlich sind auch die Bevölkerungszahlen in den letzten 15 Jahren zurückgegangen. Allerdings nur um etwa 3 %. Die vermutlich klagefreudigste Altersgruppe (20 bis 60 Jahre) ist aber noch weniger geschrumpft.

Die seit dem Jahr 2000 um durchschnittlich 25 % gesunkenen Klageeingangszahlen lassen sich nicht demografisch erklären.

 

Erklärungsansatz Nr. 2 – Weniger Streit

Sind die Deutschen womöglich einfach friedlicher geworden? Streiten sie weniger, weil es schlicht nicht mehr so viel zu streiten gibt? Geht man von dieser Annahme aus, könnte die wirtschaftliche Entwicklung eine Erklärung hierfür liefern.

Hohes Wirtschaftswachstum und gute Beschäftigungskonjunktur führen zu höherer Zufriedenheit und damit zu einer geringeren Konfliktneigung? Die Gleichung könnte allerdings auch anders lauten:  Wirtschaftswachstum und Beschäftigungsanstieg führen zu einer höheren Anzahl von Verträgen und damit zu mehr Konfliktpotential. Unser System 1 (Kahneman) würde auch diese Story einsichtig und schlüssig finden. Aktuell können wir aber mangels objektiver Daten keine abschließende Entscheidung treffen. Die Zusammenhänge sind generell unklar.

Aber es gibt ein gut belegbares Referenzbeispiel: das Arbeitsgericht! Das arbeitsgerichtliche Prozessaufkommen schaut folgendermaßen aus; Je besser die Konjunktur und je besser die Bedingungen am Arbeitsmarkt sind, desto weniger wird geklagt. Betriebsbedingte Kündigungen in wirtschaftlich schlechten Zeiten ziehen eine Vielzahl von Kündigungsschutzklagen nach sich. Bei einer stabilen Arbeitsmarktsituation – wie wir sie seit Jahren in Deutschland erleben – sind Kündigungsschutzklagen entsprechend selten.

Die Wechselbeziehung zwischen den Eingangszahlen bei den Arbeitsgerichten und der konjunktureller Entwicklung ist eine gut erforschte Konstante in der Prozessgeschichte. Das Auf und Ab von Klageeingängen und Arbeitslosenquote verläuft hier auffällig gleich. Ob diese Erkenntnis generalisiert auf andere Gerichtszweige übertragen werden kann? Aktuell unklar.

 

Erklärungsansatz Nr. 3 – Geringes Vertrauen in die Justiz

Eine weiterer Erklärungsansatz für die Prozessebbe könnte in der Einstellung der deutschen Bevölkerung zur Justiz zu finden sein. Wenn die Deutschen der Justiz nicht (mehr) vertrauen, werden sie den Gang zu Gericht seltener antreten. Bloß: Die vorhanden Daten geben eine solche Diagnose nicht her. Im Roland-Rechtsprechungsreport von 2014 (über die Aussagekraft des Berichts lässt sich streiten) zeichnete sich mit 71 % ein hohes Vertrauen in die Justiz ab. Auch der Blick auf das „Eurobarometer 385: Justice in the EU“ von 2013 zeigt, dass von einer generellen Vertrauenskrise in die deutsche Justiz nicht gesprochen werden kann. Zwar sind die lautesten Stimmen zur deutschen Justiz zumeist enttäuschte Stimmen, aber das sollte nicht die Wahrnehmung für eine objektive Einschätzung trüben. Die in der europäischen Studie errechnete Vertrauensquote lag für Deutschland mit 77 % weit über dem EU-Durchschnitt von 53 %. Allerdings ist diese Thematik nicht unumstritten.

Jedoch ein Aspekt wird generell als unzulänglich beschrieben: die Verfahrensdauer. Sie wird studienübergreifend als zu lang eingestuft. Das könnte durchaus erklären, weshalb in Deutschland seltener geklagt wird. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die durchschnittliche Verfahrensdauer wesentlich länger vermutet wird, als es tatsächlich der Fall ist. Nicht selten werden Extremfälle als Normalfälle interpretiert.

Bei einer in Bayern durchgeführten Umfrage schätzten die Befragten die Ist-Dauer für Verfahren am Amtsgericht auf 8,1 Monate, für landgerichtliche Verfahren auf 10,3 Monate. Tatsächlich liegen die Werte deutlich unter diesen Schätzwerten. Deutschlandweit beträgt die durchschnittliche Verfahrensdauer bei Amtsgerichten etwa 4,7 Monate, in Bayern sogar nur 3,9 Monate. Bei landgerichtlichen Zivilsachen in erster Instanz sind es im bundesdeutschen Durchschnitt rund 8,2 Monate.

Auch wenn es sich um eine Fehleinschätzung hinsichtlich der Verfahrensdauer handelt, Einfluss auf die eigene Konfliktstrategie hat sie allemal: Die vorgestellte Verfahrensdauer hat Einfluss auf die Frage, ob sich eine Klage lohnt bzw. ein Verklagenlassen. Gerade in wirtschaftlichen Angelegenheiten ist keinesfalls nur die Erfolgsaussicht vor Gericht maßgebend, sondern eher strategische Überlegungen, inwieweit die eigenen Ressourcen (Zeit, Aufmerksamkeit, Finanzen) auf einen Gerichtsprozess gelegt werden können. Aber entscheidend ist dies alles nicht für die Frage, ob das Vertrauen in die Justiz den Rückgang der Klageeingangszahlen erklären kann.

Dafür ist festgehalten, dass es keine Daten zur Entwicklung der Unzufriedenheit mit der Verfahrensdauer/deutschen Justiz gibt, die den Rückgang der Eingangszahlen belegen könnten.

 

Klageeingangszahlen

 

Erklärungsansatz Nr. 4 – Kosten und Rechtsschutzversicherungen

Die zu erwartenden Kosten eines Gerichtsstreits haben sicherlich keinen geringen Einfluss auf die Entscheidung für oder gegen eine Klage. Nicht umsonst zählt die Aufklärung über die Kostenrisiken zu den zentralen Aufgaben in der anwaltlichen Beratung. Verlässliche Zusammenhänge zwischen gestiegenen Kosten und sinkenden Verfahrenszahlen lassen sich aber auch hier nicht ableiten. Das Kostenrechtsmodernisierungsgesetz von 2013 etwa zog keinen direkt ablesbaren Einbruch der Verfahrenszahlen mit sich.

Eng mit den Kosten verbunden ist die Rolle der Rechtsschutzversicherungen zu sehen. Auch hier besteht Aufklärungsbedarf. Können etwa geringere Versicherungsquoten oder eine restriktivere Leistungsgewährung den Sinkflug erklären? Der Forschungsbedarf knüpft hier durchaus an die altbekannten rechtssoziologischen Fragestellungen zum „Zugang zum Recht“ an. Hier sollten in den nächsten ein, zwei Jahren durchaus verlässliche Zahlen vorliegen. Angesichts der hohen Versicherungsdichte in Deutschland kann sich ein nicht unerheblicher Anteil des Rückgangs erklären lassen.

 

Erklärungsansatz Nr. 5 – Alternativen zur Justiz

Zuletzt ein Erklärungsansatz, der in Mediationskreisen seine Freunde hat. Denn immerhin erscheint es nicht ganz unwahrscheinlich, dass der Rückgang von Klageeingangszahlen zumindest zu einem nicht unerheblichen Teil auf die kontinuierlich wachsende Bedeutung von Alternativverfahren zur staatlichen Justiz zurückzuführen ist. Dafür hat man ja jahrelang gekämpft.

Unbestritten haben Formen der alternativen Streitbeilegung durch verschiedene gesetzliche Regelungen und private Maßnahmen über die Jahre frischen Wind bekommen. Etwa durch die europäischen Richtlinien und deren deutsche Umsetzungen im Mediationsgesetz (2012) und im Verbraucherstreitbeilegungsgesetz (VSBG, 2016). Oder das Mediationsgesetz von 2012.

 

Zum VSBG gibt es einen Gesetzeskommentar, an dem INKOVEMA mitgewirkt hat.

 

Aber – so sehr dies aus Sicht eines Mediators auch zu wünschen wäre – die Dimension des Phänomens wird wohl auch damit nicht zu begründen sein. So stark weht der Wind dann doch nicht…

Und schließlich gibt es auch hier wieder das Problem der unzureichenden Datenlage: Wie viele Mediationen werden jährlich durchgeführt? Wie viele der ausgebildeten Mediatoren führen regelmäßig Mediationen durch? Wie viele Mediatoren können von ihrer Arbeit leben? Die verbandseigenen Umfragen, die im Zuge der Evaluierung des Mediationsgesetzes durchgeführt wurden, zeigen – selbst bei großzügigster Auslegung – keine Fallzahlen, die auch nur annähernd den Rückgang der Klageeingangszahlen erfassen.
Exemplarisch kann die Umfrage der Arbeitsgemeinschaft Mediation im Deutschen Anwaltverein (DAV) gelten: sie die ergab, dass 20 % der teilnehmenden Anwälte über 30% ihres Umsatzes mit Mediation verdienen. Unklar bleibt aber, wie viele Anwälte an dieser Umfrage teilgenommen haben! Der Eindruck, dass mittlerweile 20% aller Anwälte ihren Umsatz zu einem Drittel aus Mediationen bestreiten, ist falsch.

Nicht viel anders schaut es beim Berufsrechtsbarometer des Soldan Instituts aus: von etwa 80.000 bis 100.000 anwaltlich begleiteten Mediationsverfahren pro Jahr wird derzeit ausgegangen. Das dürfte weit übertrieben sein. Die Umfrage basiert auf einer Befragung von etwas mehr als 1.100 Anwälten im Zeitraum von April bis Juli 2015. 40% der Befragten gaben dabei an, in den vorangegangenen 12 Monaten Mediationsmandate angenommen zu haben. Insgesamt kamen die Anwälte auf einen durchschnittlichen Wert von 1,6 Mediationsmandaten. Unklar bleibt, ob die Basisrate von 1.100 Anwälten repräsentativ ausgewählt wurde. Denn bei derart geringen Basisraten (insgesamt gibt es in Deutschland über 160.000 Anwältinnen!) passieren schnell Fehler, die sich beim Hochrechnen exorbitant fehlerhaft auswirken. Die entscheidende Frage dürfte sein, wie sind die 1100 befragten Anwälte ausgewählt worden? (Sie müssten vor allem repräsentativ sein hinsichtlich des Verhältnisses von ausgebildeten RA-Mediaotor_nnen und nicht ausgebildeten Anwält_innen! Ich bezweifle, dass sich diese Mühe gemacht wurde.).

Auch bei anderen Alternativen-Verfahren sieht es ähnlich aus. Mangels entsprechender Informationen kann der Einfluss etwa von Schieds- und Schlichtungsverfahren sowie unternehmensinternem Beschwerde- und Konfliktmanagement auf die rückläufigen Klageeingänge nicht wirklich abgeleitet werden. Bei den Schiedsverfahren kann man immerhin auf Zahlen der Schiedsgerichte zurückgreifen. Laut der Deutschen Institution für Schiedsgerichtsbarkeit (DIS) gab es im 2014 insgesamt 132(!), im Jahr 2015 insgesamt 134(!) neue Schiedsverfahren. Über die Bedeutung von Schiedsstellen und Ombudsleuten ist damit aber noch keine Aussage getroffen.

 

Erklärungsansatz Nr. 6 – Verändertes Verhalten der wirtschaftlichen Akteure gegenüber Kunden und Konsumenten

Nicht zu unterschätzen dürften auch die veränderten Umgangsweisen mit Kunden und Konsumenten sein. Big Data und moderne Kommunikationstechnologien erlauben es mittlerweile in großem Umfang, Konfliktpotenzial aufgrund mangelhafter Waren oder unzufriedener Kunden schnell und geräuschlos „herunterzuregeln“. Rabatte, Gutscheine, kostenlose Rücknahmen, breitgefächertes und vor allem individualisiertes Entgegenkommen, via Internet und Call-Center lassen einen veränderten Umgang mit Kunden und Konsumenten aufkommen. Inwieweit derartige Veränderungen im vertragsrechtlichen Umgang Einfluss auf die Eingangszahlen bei Gerichten hat, ist allerdings zahlenmäßig nicht abzuschätzen. Auch hier besteht noch Forschungsbedarf.

 

3) Wann wissen wir, was wir tun?! – Forschungsbedarf

Der gegenwärtige Kenntnisstand ist zutiefst unbefriedigend.

 

Nicht nur, dass die Ursachen der Prozessebbe weitestgehend unklar sind. Auch die damit verbundenen Folgen können derzeit nicht abgeschätzt werden. Dazu müsste zunächst herausgefunden werden, ob es sich um ein nur temporäres, konjunkturell bedingtes Phänomen handelt. Nach der Ebbe kommt die Flut?

Oder ist abzusehen, dass sich die Entwicklung fortsetzen wird? Gerade dann ergäben sich wichtige Folgefragen. Und zwar nicht nur für die Personalplanung und Budgetverwaltung innerhalb der Justiz. Aus soziologischer Perspektive wäre es etwa interessant herauszufinden, ob sich Aussagen über gesellschaftliche Zustände treffen lassen können. Nicht zuletzt müsste man sich zudem aus rechtsstaatlicher Sicht die Frage stellen, was es mit Blick auf Rechtsfortbildung, Rechtsklarheit und eine einheitliche Rechtsprechung bedeutet, wenn eine Großzahl von Konflikten in den Gerichtssälen gar nicht mehr auftaucht.

Das gewaltige Dunkelfeld wird jedenfalls nur durch umfangreiche Untersuchungen aufzuhellen sein.

Vor allem durch genauere und zahlreichere Auswertungen von Zählkarten und Akten bei den Gerichten lässt sich hier ein Ansatz verfolgen. Mühevoll, aber notwendig. Und eine gezielte Forschung, die eine sowohl regionale als auch sachliche Differenzierung nach Gerichtszweigen, Verfahrensarten und Streitgegenständen trifft. Außerdem müssten gerade auch alternative Streitbeilegungsverfahren, insbesondere Mediationsverfahren, statistisch korrekt erfasst und analysiert werden.

Ein enormer Aufwand. Angesichts der vielen drängenden Fragen, die bislang unbeantwortet bleiben, wird der Ruf nach einer professionalisierten Justizforschung aber lauter. Im Dezember 2015 trafen sich hierzu Experten aus verschiedenen Bereichen zu einem Symposium an der Universität Halle und diskutierten den Rückgang der Klageeingangszahlen in der Justiz. Die Beiträge hierzu wurden später in Buchform veröffentlicht

[Nichts zu klagen? Der Rückgang der Klageeingangszahlen in der Justiz: Mögliche Ursachen und Folgen von Armin Höland (Hrsg.), Caroline Meller-Hannich (Hrsg)].

Es bleibt abzuwarten, ob die nicht unerheblichen (finanziellen) Mittel für weitere Schritte und eine breit angelegte Forschung aufgebracht werden. Auf verlässliche Antworten werden wir einstweilen noch warten müssen. Und das betrifft auch die Frage nach dem Schicksal der Gürteltiere …

 

Sascha + Nikolas