Aktuelle Chancen und Risiken
für die Mediation
INKOVEMA Roundup 2020 (#5)
Im März 2020 machten wir uns bei INKOVEMA daran, unseren jährlichen Roundup-Post vorzubereiten, der im Frühjahr veröffentlicht werden sollte. …und dann kam Corona. Das Virus galoppierte durch die Welt, erreichte Deutschland, ließ die Wirtschaftskreisläufe einfrieren, ließ Kinder, Schüler*innen, Arbeitnehmer*innen großteils in den eigenen vier Wänden auf sich und Zoom zurückwerfen und brachte das öffentliche Leben zum Stillstand. Manche fanden Zeit für private Baumaßnahmen, andere bauten ihre Firmen um. Wenige begannen, Mist zu bauen. Und Mediator*innen fanden sich in einer neuen Konfliktwelt wieder.
Nach einem – in Deutschland großteils – beruhigten, sonnigen Sommer, der die Gedanken zwar ordnen ließ, aber nicht die Wirtschaft und Gesellschaft zum erblühen brachte, droht nun abermals das Virus den familiären, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konflikttakt anzugeben. Deshalb haben wir nun nachgeholt, was wir im Frühjahr unmöglich durchführen konnten. Wir haben abermals unterschiedliche Mediationsexpert*innen befragt (20 an der Zahl, 12 Männer, 8 Frauen): Wo liegen – für die Mediation – die Chancen, wo die Risiken? Was ist – für Mediator*innen – zu tun?
Ihre zugesandten Antworten finden Sie hier.
Ich wünsche Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, viel Freude und Erkenntnis. Bleiben Sie gesund und – kommen Sie gut durch die Zeit!
Originalanfrage:
Die gegenwärtigen gesellschaftlichen Krisensituation in Deutschland und Europa in den Blick nehmend (Gesundheitskrise, Wirtschaftskrise und mögliche Demokratiekrise):
1. Welche Chancen und Risiken bestehen für die Mediation und Mediator*innen gegenwärtig?
2. Was können Sie angesichts dieser Situation der Mediationsszene bzw. Mediator*innen konkret empfehlen?
1. Prof Dr. Nadja Alexander
Singapur
Professor of Law (Practice),
Director of SIDRA,
Singapore International Dispute
Resolution Academy
Website:
sidra.smu.edu.sg
Die gegenwärtigen Krisen sind eine Chance für Kreativität und Innovation. Warum?
Gefangen in diesem anhaltenden Zustand der Ungewissheit sind wir aufgerufen, viele Dinge neu zu überdenken – wie wir arbeiten, wie wir Kontakte knüpfen, wie wir reisen und wie wir als Familieneinheiten leben. Wir sind auch aufgerufen, uns neu vorzustellen, wie wir mit Konflikten umgehen – vom Küchentisch bis zum Vorstandstisch.
Das neue Singapur-Übereinkommen über Mediation hat die internationale Mediation in den Mittelpunkt gerückt, indem es einen Rahmen für die direkte Vollstreckbarkeit von Mediationsvereinbarungen geschaffen hat. Darüber hinaus hat sich die Mediation zu einem anscheinend pandemiefesten Streitbeilegungsmechanismus entwickelt. Sie ist verfahrenstechnisch agil und kann zeitnahe und kommerziell sinnvolle Lösungen liefern, die notwendig sind, um den globalen Wirtschaftsabschwung zu überstehen.
Wie können Mediatoren innovativ sein?
1. Mediatoren können Technologie auf 1000 verschiedene Arten nutzen. Der SIDRA-Umfragebericht 2020 zeigt, dass die Hälfte der Kunden, die Mediation in Anspruch nehmen, Plattformen für die Durchführung von virtuellen/online Anhörungen als „äußerst nützlich“ oder „nützlich“ bewerten. Ähnliche Ergebnisse wurden in Bezug auf E-Discovery-/Due-Diligence-Tools, Tools zur Unterstützung von Verhandlungen und Analysen zur Ernennung von Mediatoren und/oder Beratern berichtet. Angesichts der globalen Pandemie wird der Prozentsatz inzwischen wahrscheinlich viel höher sein, was eine hervorragende Chance für Mediatoren darstellt.
2. Mediatoren können in Zusammenarbeit mit anderen Fachleuten für die Streitbeilegung (z.B. Schiedsrichtern) kreativ sein, um Verfahren mit einer Kombination verschiedener Methoden zu entwerfen, um die besten Bedingungen für die Durchsetzbarkeit von Ergebnissen der Streitbeilegung und für die Erhaltung von Geschäftsbeziehungen zu erreichen.
3. Mediatoren können Dienste als Vermittler von Geschäftsabschlüssen aufbauen, um Kunden bei der Neuverhandlung von Vereinbarungen zu unterstützen, die in Lichte der Gesundheitskrise nicht mehr für beide Parteien von Nutzen sind.
4. Das Risiko für Mediatoren wird darin bestehen, auf die „neue Normalität“ zu warten, anstatt sie mitzugestalten.
Meine Empfehlungen
2. Robert Erkan
Hanau
Mediator (BM),
systemischer Buisness-Coach (ILP),
Kommunikationstrainer
Website:
www.erkan-communication.de
www.systemischeallianz.de
Mediation ist mehr als nur ein Verfahren.
Krise ist immer eine Chance. Naturgemäß bekommen wir es in Krisen, im wahrsten Sinne des Wortes, mit der „Angst“ zu tun – gerade jetzt, besonders und intensiv.
Ein „Bewahren“ im Sinne von „zurück“ zur Normalität geht nicht; das wird deutlich. Eine noch unbekannte – auch transformierte – neue Normalität nach der Krise zu finden, ist die Herausforderung – auch unter Berücksichtigung der Angst.
Dieses starke „Angstfeld“ umgibt uns, auch uns Mediatorinnen und Mediatoren, auch mich. Daher gilt es, zuerst bei sich selbst beginnend, nach innen zu schauen – sich konstruktiv, menschlich, verzeihlich, gnädig und liebevoll (wieder oder immer wieder) zu begegnen und zu spüren, um dann positiv schöpfend, nach außen gestalterisch, mutig, authentisch und empathisch wirken zu können.
Für Mediatorinnen und Mediatoren heißt dies zum Beispiel, dass Abwehrreaktionen (wie destruktive Abgrenzungen, „Ungehorsam“, Schuldzuweisungen, Machtausübung, jedwede Projektionen, wie Ärger oder Hass) Strategien und Versuche des Selbstschutzes sind, auch in uns selbst, die es gilt, anzuerkennen, wenn wir sie beobachten.
Im Unangenehmen und Schmerzhaften wohnt Klärung und Klarheit inne. Dabei geht hinaus nur hindurch, also schmerzhaft wie heilend zugleich.
Mit dem Mut des Erkennens, dem Anerkennen (und Loslassens), dem Umgang mit dem eigenen, „Angstfeld“, werden neue adäquate, humane und kooperative Felder geschaffen. Ebenso gehört dazu in Beziehung zu sein und diese zu halten in Würde und in Frieden. Und wer bringt die besten Voraussetzungen mit, wenn nicht die Mediatorin und der Mediator selbst? Diese Haltung deutlicher einzunehmen, hilft gar klarer im Verfahren/Umgang zu bleiben. Darin liegt die größte Chance.
Ein(e) Mediator*in zu sein, ist eine Haltung, mehr als Mediation nur als Verfahren zu verstehen. Mein Ausblick ist damit, dass neue Türen sich öffnen, auch undenkbare Auftragsfelder und Tätigkeitsformen – ob in der digitalen oder analogen Welt. Gerade in Krisenzeiten wie diese könnte eine Art Renaissance der „Mediation“ in der Gesellschaft sich entwickeln, die eine breitere Anerkennung erfahren könnte. Es bedarf letztendlich hierzu selbst einer inneren Entscheidung des Wollens und der Überzeugung, gepaart mit der Kraft des Kollektiven im Miteinander, auch unter uns Kolleginnen und Kollegen.
Václav Havel sagte treffend: „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn macht, egal wie es ausgeht.“
3. Christian Hartwig
Magdeburg
Mediator (BM),
Ausbilder Mediation (BM),
Transformativer Mediator (ISCT),
Lehrbeauftragter der HU Berlin
Website:
www.christianhartwig.de
Welche Chancen und Risiken bestehen für die Mediation und Mediator*innen gegenwärtig?
Nicht erst seit der Coronakrise wird deutlich, dass wir in einer sehr konfliktreichen Zeit leben. Gegensätze und Meinungsverschiedenheiten treffen immer heftiger aufeinander und spalten die Menschen in vielen Lebensbereichen, was einen Dialog erschwert bzw. verhindert. Glücklicherweise ist die Mediation als ein Instrument zur Konfliktklärung mittlerweile anerkannt. Daher eröffnet sie die Perspektive, eine neue Vision sozialer Interaktion zu beschreiben.
Doch die berufliche Mediation wird überwiegend als Mittel konzeptualisiert, um Streitenden dabei zu helfen, alle durch den Konflikt betroffenen Interessen und Bedürfnisse zu befriedigen und das Leiden der Parteien bei Streitigkeiten zu reduzieren. Natürlich läßt sich das aus der Entstehungsgeschichte erklären, da das Konzept auf einer individualistischen Weltanschauung beruht. Der Konflikt wird so zu einem gemeinsamen Problem umdefiniert, wobei die Mediation eine gemeinschaftliche, integrative Problemlösung forciert. Handlungsempfehlungen für Mediator/innen basieren darauf, Wege zu finden, wie Parteien ihre Bedürfnisse individuell befriedigen können – die sogenannte Win-Win-Lösung. So herrscht noch immer die Ansicht, dass Mediator/-innen die Verantwortung für die Steuerung des Prozesses übernehmen sollten, um den Konfliktparteien zu helfen, sich an einem kollaborativen Prozess zu beteiligen, da sie Hilfe bei der Lösung ihrer Probleme benötigen. Tendenziell wird diese Denkweise durch eine stetige Verrechtlichung aus Vorgaben des Mediationsgesetzes und der damit einhergehenden Vereinheitlichung der Praxis- und Ausbildungslandschaft verstärkt.
Anders die relationale Sichtweise: Sie versteht die Menschen als autonome Wesen, die gleichzeitig grundlegend miteinander verbunden sind. Menschliches Wachstum und Lernen finden statt, wenn versucht wird, die eigene Autonomie mit der Aufrechterhaltung positiver Beziehungen zu anderen in Einklang zu bringen. Gerade Konflikte ermöglichen es den Menschen, dieses Gleichgewicht zu optimieren und im Ergebnis neue Erkenntnisse zu gewinnen. Die KP lernen und erleben dadurch, mit Situationen umzugehen, worin die Sichtweise eines anderen von der eigenen abweicht. Im Ergebnis erlangen die Parteien Selbstvertrauen und die Fähigkeit zur Entscheidung, so dass sie das erreichen, was sie sich aufgrund der veränderten Interaktion wünschen. In der transformativen Orientierung sind Konflikte die treibende Kraft in einem Prozess, durch den die Menschen Selbstsicherheit gewinnen und ihre Identität durch Einbindung in dauerhafte soziale Beziehungen, Institutionen und Ideologien verfeinern können.
Was können Sie angesichts dieser Situation der Mediationsszene bzw. Mediator*innen konkret empfehlen?
Um den Parteien in Konflikten eine richtige Hilfe zu sein, sollten Streithelfer/innen verstehen, was der Konflikt für die Parteien bedeutet und was sie in ihrer gegenwärtigen Situation als schwierig empfinden. Mediator/innen sollten verstehen, was die KP aus ihrer Sicht gerade durchmacht. Es ist eine Zeit der Veränderung für jeden und jede von uns. Das wissen wir. Wir können als Mediator/innen dazu beitragen, indem wir die Menschen, die zu uns kommen dabei unterstützen, ihre Anstrengungen für das Verständnis für die eigene Situation als auch die der anderen KP zu verstehen – wenn sie es so wollen!
Statt sich darauf zu konzentrieren, Parteien zur Lösung für ein Problem zu bewegen, sollten Mediator/innen sich darin schulen, den Streitenden im Gespräch zu folgen, um selbstbestimmt Wege zu finden, ihre bitteren Konflikterfahrungen zu überwinden und weiterzumachen. Indem Mediator/innen diese Ausrichtung auf die Konflikttransformation bei ihrer Arbeit beibehalten, können sie die Konfliktparten dabei unterstützen, eine Balance zwischen der eigenen Stärke und der Beziehung mit anderen herzustellen.
Welche Themen die KP besprechen und wie sie diese Gespräche gestalten wollen, sollte allein in ihrer Verantwortung liegen, wobei Mediator/innen darauf achten, dass die Parteien diese Verantwortung wahrnehmen können.
Die hier gekürzten Ausführungen von Christian Hartwig werden demnächst in einem ausführlichen Gastbeitrag hier in diesem Blog veröffentlicht.
4. Uwe Kassing
Hamburg, Leipzig
Rechtswissenschaftler, Ass. jur.,
Zusatzqualifikationen:
Fachanwelt für Insolvenzrecht (DAA),
zertifizierter Mediator (DAA)
Sanierungsmediation,
gepr. ESUG-Berater (D.I.A.I.)
Welche Chancen und Risiken bestehen für die Mediation und Mediator*innen gegenwärtig?
Vor dem aktuellen Hintergrund – Krisensituation Wirtschaftskrise und COVID-19-Epidemie in Deutschland – ergeben sich insbesondere starke Auswirkungen auf die Wirtschaft. Fest steht für mich, dass diese Wirtschaftskrise auch ein überdurchschnittlich erhöhtes Konfliktpotential erzeugt und auch noch erzeugen wird. Es werden also in dem Bereich der Wirtschaftsmediation die Mediator*innen zur Unterstützung der Konfliktlösungen gefragt sein.
Die Pressemeldungen zu den negativen wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Epidemie auf das deutsche Wirtschaftsgeschehen sind einig darin, dass diese beispiellose Rezession des Bruttoinlandsprodukts zu einem starken Anstieg der Unternehmenskrisen geführt hat und noch führen wird.
Hier liegt der Ansatzpunkt für eine sinnvolle „Mediation in der Unternehmenskrise“. Eine Unternehmenskrise beinhaltet einen „Strauß“ von Konfliktpotentialen, der einer Mediation zugänglich ist. Angeschlagene Unternehmen sollten den Aufschub für einen Sanierungsversuch mithilfe eines Mediators nutzen.
Zur Unterstützung der vorinsolvenzlichen Sanierung sieht die neue EU-Richtlinie auch die Einschaltung eines Mediators sowie Sonderrechte für das betroffene Unternehmen vor, nur bestimmte Gläubiger in die Sanierungsmaßnahmen einzubeziehen. Dazu kann auch ein außergerichtliches Sanierungsmoratorium vereinbart werden. In dieser Phase ist es besonders wichtig, die beteiligten Konfliktparteien durch eine Mediation mit einem spezifischen Kommunikationskonzept an einen Verhandlungstisch zu holen Für die Rettung des Unternehmens müssen die Konfliktparteien aufeinander zugehen. Hier hat sich die Mediation bewährt.
Die Risiken einer Mediation in der Unternehmenskrise bestehen für die Mediator*innen darin, die gesellschaftsrechtlichen, insolvenzrechtlichen und strafrechtlichen Rahmenbedingungen auch während der Mediation ständig im Blick zu haben. Denn, allein die Vereinbarung eines Sanierungsmoratoriums garantiert noch nicht, dass bei einem spätere Scheitern der Mediation gegenseitige Ansprüche der Beteiligten nicht doch noch zu unerwünschten Aus- und Nebenwirkungen führen.
Was können Sie angesichts dieser Situation der Mediationsszene bzw. Mediator*innen konkret empfehlen?
Die Herausforderung besteht für die Mediator*innen zunächst darin, die aktuelle Situation mit den eigenen Möglichkeiten und Kompetenzen abzugleichen, das eigene Profil im Hinblick auf die Einsatzmöglichkeiten (Konfliktbereiche) zu schärfen und ggf. eine (regionale) Markt-Analyse vorzunehmen, ob und inwieweit eine Unterstützung einer Wirtschaftsmediation, insbesondere bei einer Mediation in der Unternehmenskrise, tatsächlich geleistet werden kann.
Auch eine punktuelle mediative Unterstützung, z.B. in innerbetrieblichen, arbeitsrechtlichen Konflikten oder Konflikten innerhalb von Liefer- oder Kundenbeziehungen, die u.a. einer Gesamtlösung zur Überwindung einer Unternehmenskrise entgegenstehen, kann dabei sehr hilfreich sein.
Ein besonderes Augenmerk sollte dabei auch auf die Vertragsgestaltung und die Haftungsregelung für die Mediator*innen gelegt werden, da es sich generell um einen haftungsträchtigen Bereich der Mediation handelt.
Die hier gekürzten Ausführungen von Herrn Kassing werden demnächst in einem ausführlichen Gastbeitrag hier in diesem Blog veröffentlicht.
5. Anja Köstler
München
Mediatorin BM und BMWA,
Ausbilderin Mediation BM/
Lehrtrainerin BMWA,
Organisations- und Führungskräfteentwicklerin
Trainerin für Mindful Leadership
Website:
Welche Chancen und Risiken bestehen für die Mediation und Mediator*innen gegenwärtig?
Im gegenwärtigen Druck geht alles in die zweite, dritte und vierte Reihe, was nicht unmittelbar als überlebenswichtig gilt. In Unternehmen ebenso wie in der Politik und im Gesundheitswesen.
Ich sehe zwei Gefahren:
- Organisationen streichen im Fokus auf Sparen viele der kommunikativen, entwicklungsbetonten Formate wie Teamentwicklung, Fortbildung, HR-Budgets, usw..
- Konflikte, die auf komplexe Dysfunktionalitäten oder Mängel hinweisen und somit wesentliche Weiterentwicklungen behindern, geraten noch mehr als bisher aus dem Blick.
„Wo die Gefahr wächst, wächst das Rettende auch.“ (Hölderlin)
Wenn wirtschaftliches Überleben in Frage steht, ist Kreativität und Innovation gefragt, – in einer hohen Stress-und Drucksituation. Umso essentieller ist es für Unternehmen und Organisationen, sich auf das Potential ihrer Mitarbeiter zu stützen. Das erfordert, deren Belastung durch Konflikte, die sich in der Krise(n) i.d.R. verschärfen, aktiv und bewusst aus dem Weg zu räumen. Nur so werden Denken und Kreativität wieder frei, und die nötigen Selbstorganisations- und Selbstführungsfähigkeiten entstehen.
Mediation kann diese Hindernisse schneller und zielgerichteter aus dem Weg räumen als niedrigschwellige Angebote wie Teamentwicklung oder Fortbildung. Für Mediation werden Ressourcen da sein.
Die Komplexität der Krisen ist hoch: Was auf der einen Seite hilft, wirft woanders neue Probleme auf. Es gibt nicht die eine Logik, die alles löst. Komplexität simpel bewältigen zu wollen, schafft hohe Risiken fürs Gesamtsystem, – sichtbar an den gesellschaftlichen Konflikten, die wir derzeit erleben. Die Konfliktaustragungsformen spitzen sich zu und gleichzeitig trennen sich die „Szenen“ immer mehr voneinander.
Der Prozess der Mediation, die verschiedenen Interessen zu erkennen, miteinander in Kontakt und Abwägung zu bringen und zu einem Interessensausgleich zu kommen, wird umso wichtiger.
Die Verschiebung der Kommunikation ins Virtuelle hat manchen Mediator*innen erst mal den Boden unter den Füßen weggezogen. Doch virtuelle Meetings haben für die Konfliktparteien auch entlastende Funktionen. Man kann Konflikte ansprechen und bearbeiten, ohne im gleichen Raum mit dem Kontrahenten sitzen zu müssen. Das schafft Schutzräume, die es in einer Präsenzmediation nicht gleichermaßen gibt.
Was können Sie angesichts dieser Situation der Mediationsszene bzw. Mediator*innen konkret empfehlen?
Geht in Kontakt, macht Eure Kompetenzen und den Nutzen von Mediation konkret sichtbar.
Stellt Euch aktiv ins „Zwischen“ von Parteien und macht so erfahrbar, dass man das aushalten kann und künftig immer mehr auch muss.
Macht solidarische Angebote an Eure Kunden. In diesen Zeiten den eigenen Selbstwert mit der Honorarhöhe zu verknüpfen, nützt niemandem.
Lernt online zu arbeiten. Dazu gehört, einschätzen zu können, wie ich im virtuellen Meeting Fokus, Nähe, Distanz, Selbstklärung und Verständnis schaffen kann – und in welchen Fallkonstellationen und Eskalationsgraden.
Widersteht der Versuchung, Online-Aufträge anzunehmen, die Präsenz brauchen.
Befasst Euch mit Komplexität, denn die wirklichen Herausforderungen sind nicht die linearen Prozesse, die sich schnell erschließen, sondern der Umgang mit Widersprüchen und mit „gefühlten“ Wahrheiten und Fakten.
6. Dr. Hanna Milling
Berlin
Friedens- & Konfliktforscherin,
Mediatorin & Ausbilderin BM,
Traumatherapeutin
Website:
www.hannamilling.de
Welche Chancen und Risiken bestehen für die Mediation und Mediator*innen gegenwärtig?
Wir erleben angesichts der „Corona-Krise“ eine gewaltige Polarisierung der Gesellschaft. Unterschiedlichste politische Lager sprechen plötzlich ähnliche Sprachen und Freunde, Familien und Nachbarn verstehen sich nicht mehr, klagen sich an, zeigen mit dem Finger aufeinander. Der gemeinsame Nenner: Angst. Existenzielle Angst. Angst vor Krankheit und Tod, Angst vor Freiheitsverlust und Machtmissbrauch, Angst vor Armut und Arbeitslosigkeit. Die Haltung der Mediation, die sich in keine Polarisierung hineinziehen lässt, sondern im gegenseitigen Verstehen-Wollen und Fühlen bleibt, ALLE Ängste Ernst nimmt und hören möchte statt sie zu verurteilen, ist wichtiger denn je. Ich glaube unsere Chance in dieser Krisenzeit ist es, die Haltung der Mediation in alle Bereiche des Lebens und in die Öffentlichkeit zu tragen und dadurch einen unermesslichen Beitrag zu leisten, dass die Krise zur Chance werden kann. Das Risiko: Uns selbst in die Angst hineinziehen und von ihr leiten lassen.
Was können Sie angesichts dieser Situation der Mediationsszene bzw. Mediator*innen konkret empfehlen?
7. Dr. Jürgen von Oertzen
Karlsruhe
Promovierter Politikwissenschaftler,
Zertifizierter Mediator,
M.A. Mediation
Website:
www.einigungshilfe.de
Welche Chancen und Risiken bestehen für die Mediation und Mediator*innen gegenwärtig?
Schon vor der Coronakrise galt, dass es in Wirtschaft, Gesellschaft und Familien einen sehr großen Bedarf an humanistischer Konfliktregelung gibt, der aber nur zu einem geringen Teil in eine tatsächliche Nachfrage nach Mediation mündet. Soweit ich sehen kann, wird das durch die Coronakrise noch verschärft: familiäre Probleme bis hin zu häuslicher Gewalt und Femiziden nehmen aller Voraussicht nach zu, Teams geraten in ungewohnte, konfliktanfällige Situationen durch Home Office und räumlich und zeitlich getrenntes Arbeiten, und die Gesellschaft insgesamt muss mehr zentrifugale Kräfte aushalten als zuvor. Für all das wäre Mediation oder eine mediative Herangehensweise genau richtig: Missverständnisse klären, unterschiedliche Meinungen und Bedürfnisse akzeptieren und verstehen, und auf einer gemeinsam akzeptierten Faktenbasis zu Lösungen kommen, die ein wirklich menschliches Zusammenleben oder zusammen Arbeiten ermöglichen. Leider ist aber die Lücke zwischen Bedarf und Nachfrage noch größer geworden: Die Ansteckungsgefahr kann Menschen abhalten (oder als Begründung dienen) nicht zu Mediation gehen zu wollen. Viele Firmen fürchten (berechtigterweise) um ihre bisherigen Gewinnmargen, Absätze und die gewohnten Betriebsabläufe, sodass Führungskräfte und Manager*innen noch weniger Zeit und Muße als sonst haben, um in die – letztlich eigentlich effizientere – Herangehensweise der Mediation zu investieren.
Was können Sie angesichts dieser Situation der Mediationsszene bzw. Mediator*innen konkret empfehlen?
8. Thomas Robrecht
Nürnberg
Geschäftsführender Gesellschafter
von SOKRATeam,
Führungskräfteentwickler,
Trainer und Buchautor,
Mediator und Ausbilder (BM)
Website:
www.profimediation.info
Welche Chancen und Risiken bestehen für die Mediation und Mediator*innen gegenwärtig?
Corona polarisiert. Das könnte die Chance für Mediation sein. Verschwörungstheorien erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Fakten sind Fake und Schuld ist jemand anderes. Diese Haltung befreit von Eigenverantwortung, stigmatisiert und macht Mediation scheinbar obsolet. Die einzigen, die es besser wissen, sind die Mediator*innen. Und trotzdem macht es fehlende Eigenverantwortung der Mediand*innen sehr schwer bis unmöglich, in einer Mediation bedürfnisgerechte Lösungen zu erarbeiten. Das war schon vor Corona so. Mit Corona wird deutlich, dass die Fokussierung individueller Bedürfnisse nicht ausreicht, weil kollektive Erfordernisse mindestens genauso bedeutsam sind – wenn nicht sogar bedeutsamer.
Mediation arbeitet mit Kollektiven. Da liegt es auf der Hand, die Erfordernisse des Kollektivs als Arbeitsgrundlage der Mediation auch zu nutzen. Das befreit sie von der Bedingung zur individuellen Eigenverantwortung. Die Chance besteht darin, das Verständnis von Mediation zu erweitern und sie als »Befähigung eines Kollektivs zur Lösung« zu definieren. Die beiden Prozesslogiken (bedürfnis- und ergebnisfokussiert) sind hier näher beschrieben: https://youtu.be/nTWo23-0zno
Was können Sie angesichts dieser Situation der Mediationsszene bzw. Mediator*innen konkret empfehlen?
Zunächst sollte jede/r Mediator*in für sich überprüfen, ob er oder sie mit ergebnisfokussierten Interventionen klar kommt, denn diese Form stellt die mediativen Grundsätze bedürfnisfokussierten Arbeitens infrage. Freiwilligkeit und Vertraulichkeit können auch genutzt werden, um fehlende Bereitschaft zur Eigenverantwortung zu verschleiern. Damit können Individuen einem Kollektiv schaden, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Diese Möglichkeit besteht bei ergebnisfokussierten Interventionen nicht, weil sie fehlende Bereitschaft für das Kollektiv sichtbar und besprechbar macht. Wie ergebnisfokussierte Mediation genau umgesetzt wird, erklärt diese Video: https://youtu.be/NLDRwbe3XF8
Je mehr Mediator*innen sich diese Mediationsform erschließen, desto größer werden die Chancen mit Mediation auch bei fehlender Offenheit der Mediand*innen diese zu ihren Lösungen zu führen. Damit lässt sich eine Brücke bauen zwischen Menschen mit unterschiedlich ausgeprägten Bereitschaften. Einzige Voraussetzung ist, dass es ein von allen Beteiligten akzeptiertes Ziel gibt.
9. Klaus-Olaf Zehle
Hamburg/Lübeck
Mediation in Gesellschafterkonflikten &
bei innerbetrieblichen Streitigkeiten,
Diplom-Wirtschaftsingenieur,
Zertifizierter Mediator M.A.,
Wirtschaftsjurist LL.M. (com)
Website:
www.klausolafzehle.de
Welche Chancen und Risiken bestehen für die Mediation und Mediator*innen gegenwärtig?
Corona und die Auswirkungen haben deutlich gemacht, dass die Digitalisierung auch vor der Mediation nicht halt macht. Woran mache ich das fest?
Die Anzahl der Ausbildungen bzw. Ausbildungsmodule zum Thema Online Mediation ist im Zeitraum des Lockdowns stark angestiegen. Ich persönlich habe unterschiedliche Möglichkeiten wahrnehmen können. Auf internationaler Ebene z.B. durch CPR, eine vierstündige Veranstaltung mit über 60 Teilnehmern oder auch ein sehr gutes Modul der Viadrina über zwei Tage.
Seit Juli dieses Jahres gibt es für Online Plattformen wie E-Bay, Amazon, Google und viele mehr eine Richtlinie zur Behebung von Streitigkeiten mit Händlern, die deren Plattform nutzen, die sogenannte P2B Richtlinie. Gerade die Plattformen haben ein starkes Interesse an digitalen Modellen und haben feste Vereinbarungen mit Mediationsanbietern geschlossen, die Online Mediation anbieten.
Nach dem wir auf unserem Portal www.mediator-finden.de die Möglichkeiten erweitert haben auch Online Mediation als Vorgehensmodell anzubieten ist die Anzahl der Mediatoren mit diesem Angebot binnen weniger Wochen von knapp über zehn auf jetzt ca. 150 MediatorInnen angestiegen
Was leite ich ab. U.a. durch Rahmenbedingungen wie die P2B Richtlinie und die Möglichkeiten die Eintrittsschwelle zum Mediationsverfahren durch geringeren Anreiseaufwand zu verringern, wird die Zahl der Mediationsfälle zunehmen. Jetzt nach dem Lockdown ist die vorübergehende Einschränkung bei persönlichen Mediationen reduziert. Insgesamt kann die Mediation also profitieren.
Was können Sie angesichts dieser Situation der Mediationsszene bzw. Mediator*innen konkret empfehlen?
Ich empfehle jeder Mediatorin und jedem Mediator sich mit Online Verfahren und deren Besonderheiten vertraut zu machen. Die Anfangs vor allem der Plattform Zoom entgegengebrachten Datenschutz und Vertraulichkeitsprobleme sind mittlerweile aus der Welt geschafft worden. Die vielfältigen Plattformen bieten unterschiedlichste Möglichkeiten, vom sehr einfach nutzbaren Google Meet über Webex, Zoom, MSTeams oder Skype bis hin zu speziellen Plattformen wie Vitero stehen viele Varianten und Funktionen zur Verfügung. MediatorInnen die sich im Umfeld von Unternehmen bewegen, sind meist gezwungen, die vom Unternehmen genutzte Plattform zu nutzen. Wer im Privatumfeld agiert sollte selbst das Werkzeug seiner Wahl nutzen.
Die oft vorhandene Skepsis der Mediator*innen können diese nur durch Ausprobieren überwinden. Die Möglichkeiten, Online und Präsenzformate innerhalb eines Prozesses zu nutzen, werden bei den Kunden deren Akzeptanz und den Nutzen der Mediation steigern.
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