Paradoxien der Mediation
Freiwilligkeit, Vertraulichkeit, Selbstbestimmtheit, Werblichkeit…Paradoxien der Mediation, die für Mediator*innen wichtig sind, ihre Arbeit zu verstehen
Inhaltsübersicht
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Ausgangspunkte der Paradoxien, die das Ende vorwegnehmen
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Das erste Paradox der Mediation (McEwen/Milburn)
- Der Grad der Freiwilligkeit zu Beginn einer Konfliktvermittlung hat keinen Einfluss auf den Erfolg der Vermittlungsbemühungen.
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Das zweite Paradox der Mediation (Röhl)
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Mediation erscheint erfolgreicher, befriedender, nicht nur rechtlich, sondern auch sozial, erscheint schneller und billiger zu haben (als das gerichtliche Urteil, das zudem konfliktenteignend sei) und insgesamt sozialer und individuell besser zu sein, bleibt aber ungenutzt.
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Das dritte Paradox der Mediation
- Das zweite Paradox der Mediation gilt auch für Mediator*innen!
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Das EU-Mediation-Paradox
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Die EU peilte 2008 an, dass im Jahre 2018 50% aller EU-Zivilstreitigkeiten mediativ bearbeitet werden würden und machte sich daran, dieses Ziel umzusetzen. 2018 erreichten sie knapp 1%.
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Die Paradoxien der Mediation in Bezug zu Vertraulichkeit und Vertrauen
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Die Vertraulichkeitsanforderung des neutralen Dritten diktiert Sozialdruck. Vom Konfliktpartner verklagt zu werden, ist ebenso einfach, wie diesen seinerseits zu verklagen. Aber sich gemeinsam dem Mediationsverfahren zu unterwerfen, ist enorm voraussetzungsreich – und überhaupt keine Selbstverständlichkeit. Deshalb ist Mediation eine Rarität im Meer der Konflikte.
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Die Paradoxien der Sichtbarkeit von Mediator*innen
- Mediator*innen intervenieren bei Autonomen und werben mit Neutralität
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Das Mediationsparadox und seine Auflösung (Heck)
- Das Paradox, das sich auflösend hält
Ausgangspunkte der Paradoxien, die das Ende vorwegnehmen
Wer sich die Mediationslandschaft – in Deutschland – anschaut, kommt nicht umhin, sich mit Paradoxien konfrontiert zu sehen.
Deshalb ein paar Worte zu Paradoxien, das Phänomen, das selbst paradox wirkt. Denn Paradoxien beflügeln ihrem Wesen nach das Denken – und wirken dennoch oft lähmend auf die Beteiligten von Konflikten und Mediationen. Konfliktverwickelte beanspruchen verständlicherweise Widerspruchsfreiheit und Klarheit, auch wenn damit Enttäuschung programmiert ist.
Das Nachdenken über paradoxe Phänomene der Mediation soll mit diesem Beitrag ebenfalls beflügelt werden. Und bei Gott (drunter geht’s heut und hier nicht!) – ein paar Punkte der Mediation bedürfen der Klarheit und fordern Enttäuschung.
Mit dem Begriff der Paradoxie – dem Altgriechischen entlehnt ist „para“ = „gegen, wider“ und „doxa“ = „Meinung, Ansicht, Glaube“ – wird eine Widersprüchlichkeit, eine Gegensätzlichkeit aufgegriffen, die mit der gängigen Logik nicht aufgelöst werden kann.
Im Folgenden werden einige Phänomene der Mediation und Mediationsbewegung aufgegriffen, die sich in der Perspektive der Mediationsliebhaber*innen paradox ausnehmen, obschon sie aus einer anderen Perspektive durchaus und einfach verständlich erscheinen.
Wie überall, wo sich Paradoxien in einer gedanklichen Logik auftun, gilt es, diese Paradoxie anzuerkennen und mit ihr (im Fragemodus!) zu arbeiten. Paradoxien sind wie wenig anderes geeignet, die vorhandene Fragestellung abzuändern und die eine passende Frage in den Blick zu bekommen, die ohne diese Paradoxie entfleuchen würde. Zudem lassen sich Paradoxien gut nutzen, um komplexe Phänomene zumindest in Teilen besser zu analysieren oder zumindest die komplexen Anteile von den schlicht noch nicht durchdrungenen, aber prinzipiell durchdringbaren Anteilen zu differenzieren.
Also – auf geht’s – zu den Paradoxien der Mediation, in denen wir bereits mittendrin stehen.
„Geben wir für die Grabpflege mehr aus
als für die Fortbildung?“
(unbekannt)
1. Das erste Paradox der Mediation (McEwen/Milburn):
Der Grad der Freiwilligkeit zu Beginn einer Konfliktvermittlung hat keinen Einfluss auf den Erfolg der Vermittlungsbemühungen.
Das muss man sich als Mediator erstmal auf der Zunge zergehen lassen – und im Geiste verarbeiten. Dieses sog. erste Mediationsparadox hatten bereits Craig A. McEwen und Thomas W. Milburn zu Beginn der 1990er im Negotiation Journal, 1993, 23-36, mit ihrem Beitrag Explaining a Paradox of Mediation formuliert.
Gerade in Deutschland, bei dem der Gesetzgeber im Zuge der Mediationsbewegung das mediative Prinzip der Freiwilligkeit enorm hoch angesetzt hat, erscheint es geradewegs grotesk, dass der Grad der Freiwilligkeit zur Mediation keinen nennenswerten Einfluss auf den Erfolg der Mediation haben soll. Wohlgemerkt „zur“ Mediation, nicht „in der“ bzw. „während der“ Mediation!
Doch letztlich ist genau das der Fall, der Grad der Freiwilligkeit hat kaum Einfluss auf den Grad an Erfolgswahrscheinlichkeit. Die simple Idee, mehr Freiwilligkeit führe zu mehr Selbstengagement, mehr Lösungsmotivation zu mehr Lösungsidentifizierung und damit zu mehr Nachhaltigkeit stimmt so einfach nicht. Ob Vermittlungen scheitern oder zu einem Erfolg führen (Einigung), ist nicht nennenswert davon abhängig, inwieweit die Konfliktparteien zu Beginn zu dieser Mediation „gedrängt“ wurden. Es gibt kaum Gründe anzunehmen, dass sich das in den vergangenen vierzig Jahren geändert hat.
Vermittlungsbemühungen sind nicht vom anfänglichen Grad der Freiwilligkeit abhängig – was heißt das?
Doch wie dürfen wir dieses Paradox verstehen? Das erste Mediationsparadox bedeutet, dass Vermittlungsbemühungen nicht deshalb scheitern oder erfolgreich sind, nur weil die Konfliktparteien in die Mediation gedrängt wurden oder nicht. Ein Drängen kann dabei vom Arbeitgeber genauso ausgehen wie von den Kolleg*innen oder den Angehörigen zu Hause. Das Drängen zur Mediation, der Zwang oder die Pflicht, eine Mediation aufzunehmen, bedeutet nur, dass halt mehr Mediationen zustande kommen (dürften), nicht aber, dass durch dieses Drängen die (Miss-)Erfolgsquote sinkt oder steigt. Es macht einfach keinen signifikanten Unterschied, mögen die persönlichen Erklärmuster für das Nichteinigen auch andres nahelegen.
Klar ist aber natürlich, dass nominell mehr Mediationen begonnen werden, sofern die Genossen Zwang und Drang nachhelfen. Aber Zwang und Drang haben keinen generellen Einfluss auf die Beendigung von Mediationen.
Mediator*innen, die stets nur dann zu arbeiten beginnen, wenn alle Beteiligten zu Beginn ihre Freiwilligkeit – absolut – bestätigen, verschenken sich möglicherweise also die erlebbare Erfahrung dieses Paradox.
Exkurs 1: Zeigt sich, dass die obligatorische Teilnahme an einem Mediationsverfahren die Erfolgsrate kaum wesentlich beeinflusst, ist immer noch nicht klar, was es damit auf sich hat, dass es zu gelingenden Vereinbarungen kommt: Der bekannte Rechtssoziologe Klaus F. Röhl hat in diesem Zusammenhang immer wieder auf das von ihm so benannte Naturgesetz der Vermittlung aufmerksam gemacht; danach enden konstant etwa zwei Drittel aller Mediationsverfahren mit einer Einigung und ein Drittel eben nicht. Und das gilt immer, wenn die Parteien, egal wie, an den Verhandlungstisch gekommen bzw. gebracht worden sind.
Exkurs 2: Die Freiwilligkeit zur Mediation muss deshalb nicht sogleich Bord geworfen werden. Es mag andere Gründe und Adressaten für diesen gesetzgeberischen Wille geben. Auch wenn großteils (2/3) die Konfliktparteien am Ende einer Mediation zufrieden sind, obschon sie zu Beginn gar nicht die Vermittlung wollten, spricht das nicht direkt für eine direktive, paternalistische Mediationspolitik.
Auch wenn McEwen und Milburn meinten, man müsse die Streithähne nur mehr oder weniger an den Verhandlungstisch nötigen, damit sie freiwillig zu einer Einigung gelangten und sie damit zu ihrem Glück zwingen. Es kann eben auch von Wert sein, dieses Glück nicht gesetzgeberisch zu erzwingen. Denn Regeln und Gesetze entfalten ihre Wirkungen nicht nur gegenüber den ignorierenden Adressaten, sondern auch gegenüber adressierten Beobachtern.
2. Das zweite Paradox der Mediation (Röhl):
Das zweite Mediationsparadox ist heute allen Mediator*innen, die sich in der Mediationslandschaft umschauen, vertraut:
Mediation erscheint erfolgreicher, befriedender, nicht nur rechtlich, sondern auch sozial,
erscheint schneller und billiger zu haben (als das gerichtliche Urteil, das zudem konfliktenteignend sei) und
insgesamt sozialer und individuell besser zu sein, bleibt aber ungenutzt.
Das gilt jedenfalls für die Gegenwart und die jüngere Vergangenheit der letzten 30 Jahre in Deutschland – gemessen an den Hoffnungen und allseitigen Wünschen. Gleichwohl kaum jemand öffentlich ein negatives Wort über die Mediation verliert und allem guten Leumund, bundesstaatlicher und europäischer Förderung zum Trotz, bleibt dies aktuell nüchtern festzuhalten: Mediation hat als Konfliktmanagementverfahren die Hoffnungen der Justiz und Mediatorenlandschaft zugleich enttäuscht.
Und das ist besonders niederschmetternd im angesichts der Tatsache, dass in den vergangenen achtzehn Jahren (2005 – 2023) das staatliche Konfliktklärungsprogramm des Gerichtswesen in sagenhafter Weise gemieden wurde, wie es sich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts niemals hätte jemand erträumen können. Die Klagewellen in Deutschland verebbten nahezu vollständig. Die deutschen Zivilgerichte wurden immer seltener beansprucht, obschon das Aufkommen gesellschaftlicher Konfliktlagen keineswegs abgenommen hatte. Ganz im Gegenteil. (Dazu jetzt im Mai 2023 ganz frisch veröffentlicht: der Abschlussbericht zum Forschungsvorhaben „Erforschung der Ursachen des Rückgangs der Eingangszahlen bei den Zivilgerichten“, der ein dreijähriges Forschungsprojekt dazu abschließt.).
Dennoch hat sich die Mediation allem Anschein nach quantitativ in diesem Zeitraum – über alle Anwendungsfelder hinweg – nicht wesentlich verbessert.
Gleichwohl: Ungebrochen gilt, was schon der Rechtssoziologe Klaus F. Röhl als zweites Mediationsparadox benannt hat:
- besser (als andere Konfliktbearbeitungsverfahren, v.a. besser als gerichtliche Verfahren)
- schneller (als jedes andere Verfahren, die eigenständige Verhandlung mal ausgenommen)
- billiger (als das Gericht, Schiedsgericht oder ähnliche Verfahren)
- erfolgreicher (als andere Verfahren),
- aber eben auch – objektiv und generalisiert – ungenutzt.
Alle, die eben auch potenziell Konfliktparteien sein können, befürworten den Gang zum Mediator ehe sie das Gericht einschalten würden – aber kaum jemand macht es im Falle der eigenen Konflikte.
3. Paradox der Mediation
Das zweite Mediationsparadox gilt auch für Mediator*innen!
In einer nicht repräsentativen Umfrage (des Autors dieses Blogbeitrags) auf dem beruflichen Netzwerk LinkedIn wurden Mediator*innen befragt, inwiefern sie bereits als Mediant*innen an einem ihrer Konfliktfälle beteiligt waren, also: Wie oft haben Mediator*innen eine Mediation in eigenen Angelegenheiten beauftragt? Nicht gefragt wurde (aus Unachtsamkeit!), ob und in wie vielen Fällen eine Mediation angeregt, aber sodann von der Gegenseite abgelehnt wurde oder man selbst angefragt wurde, aber dankend abgelehnt hat. Doch die Auswirkungen dieses Mangels können kaum bedeutsam gewesen sein, weil in den Kommentaren zur Umfrage in keiner Weise darauf aufmerksam gemacht wurde.
Wie waren die Ergebnisse?
- 44% der antwortenden Stimmen hatten 0 Mediationen durchgeführt.
- 21% haben 1 Mediation durchgeführt,
- 19% haben 2-4 Mediationen durchgeführt
- 16% haben 5 oder mehr Mediationen durchgeführt.
Also knapp die Hälfte der professionell geschulten, bestens mit dem Verfahren vertraute Personen haben bisher in ihrem Leben noch keine Mediation (mit-)beauftragt. Das erscheint zumindest erstaunlich.
Paradox ist es vor allem auf dem Hintergrund, dass einer der Hauptgründe für das zweite Mediationsparadox allgemein damit begründet wurde, dass das Verfahren unbekannt sei und wenig Erfahrung mit diesem Erlebnis- und Erfahrungsprodukt bestünde. Doch das gilt nicht für Mediatoren. Sie wissen um das Verfahren und die Möglichkeiten der Konfliktbearbeitung.
Also knapp die Hälfte der professionell geschulten, bestens mit dem Verfahren vertraute Personen (Mediator*innen) haben bisher in ihrem – mit Sicherheit nicht weniger konfliktreichen – Leben noch keine Mediation (mit-)beauftragt.
Also knapp die Hälfte der professionell geschulten, bestens mit dem Verfahren vertraute Personen (Mediator*innen) haben bisher in ihrem – mit Sicherheit nicht weniger konfliktreichen – Leben noch keine Mediation (mit-)beauftragt.
Es erscheint merkwürdig, dass die Personen, die Mediation genau kennen (dürften), ihre Wirkungen und Nebenwirkungen -, aber von diesem Instrument und Verfahren in eigenen Angelegenheiten kaum selbst Gebrauch machen. Jedenfalls knapp die Hälfte aller Mediator*innen haben keine ernsthaften Erfahrungen in der Rolle als Mediant*innen! Das ist bemerkenswert, geradewegs merkwürdig. Und erscheint paradox – jedenfalls für den Fall, dass Mediator*innen noch ausreichend selbst Konflikte haben. Doch wieso sollten Konfliktpotenziale geringer werden, wenn man eine Mediationsausbildung absolviert hat? Schließlich wird dort vor allem gelehrt, dass Konflikte normal seien und zu jedem Leben dazugehörten, oder? Also daran sollte es kaum liegen können, dass für Mediator*innen die Konflikte verschwunden sind. Eher schon könnte man die allgemein kolportierte Konsequenz einer Mediationsausbildung darin sehen, dass die Wahrnehmung der eigenen Konflikte sensibilisiert wurde und die Bereitschaft, Dritte als Vermittler*innen hinzuzuziehen, wesentlich früher und unkomplizierter vorzufinden ist. Dem ist aber praktisch ganz und gar nicht so! Und wer den Test machen möchte, der gehe einfach zu einer Vereinsversammlung irgendeines Mediationsverbandes…
Und, bitte, nicht falsch verstehen: Ich wundere mich nicht, dass Mediator*innen – auch untereinander – leidenschaftlich streiten können, ihre Berechtigungsannahmen pflegen und Ansprüche sowohl aus ihren Rechten als auch aus ihren Sorgen ableiten. Das halte ich für normal. Und ich wundere mich auch nicht, dass diese professionellen Mediator*innen in den seltensten Fällen auf die Idee kommen, selbst eine Mediation zu beauftragen oder ihre Konfliktpartner dazu anzuregen. Das tun sie genauso wenig (oder oft!) wie der Rest der Bevölkerung. Nur in ganz bestimmten Konstellationen, in denen viele einzelne Kriterien kumulativ erfüllt sind…
Ich bin ebenfalls der Meinung (und kann das für mein Leben bestätigen), dass Konflikte nach wie vor dazugehören und ich keineswegs von ihnen weniger „habe“.
Und ich will auch nicht von Mediationen abraten, wenn ich auf das dritte Mediationsparadox aufmerksam mache. An Mediation ist nichts falsch! Für falsch und unterkomplex halte ich die Idee bzw. den Anspruch, Mediation müsste oder könnte beim Großteil der Konflikte zum Zuge kommen und ihr müsse gewissermaßen stets der Vorzug vor dem Gericht gegeben werden, weil der Gang vor das Gericht eine Art Niederlage des richtigen, vernünftigen, gewissermaßen sozialen Konfliktmanagements sei und der Totentanz eskalierender Tragik. Es ist allenfalls ein Mythos der Mediation, dass mit dem Gang zu Gericht der Weg zur Hölle beschritten würde, aber der Weg zum Mediator der Weg zur wahren, inneren Bestimmung gegangen würde.
Ich halte Mediation für eine tolle Erfindung; sie ist die Königsdisziplin der Beratung und sollte stets dort zum Zuge kommen, wo sich ein Konfliktsystem beraten lassen will. Dafür ist Mediation geschaffen worden. Und wie bei vielen Beratungen ist der Anlass eine gewisse innere Not, bei der wenig Freiwilligkeit gespürt, aber tatsächlich wahrgenommen wird. Aber mit „einer“ inneren Not bei einem Konfliktsystem ist das so eine (besondere) Sache.
Für mich hat sich dank der Mediation mein Konflikterleben nochmals grundlegend geändert, aber keineswegs in nur eine Richtung. Ich habe selbst fünf Mediationen in unterschiedlichen Feldern, zu unterschiedlichen Lebensfragen und in unterschiedlichen Lebensphasen miterleben dürfen bzw. (mit-)beauftragen können.
Keinesfalls aber habe ich alle meine Konflikte einer Mediation zugeführt, noch hatte ich das jemals vor. Weder vor, während, noch nach meiner Ausbildung. Für den Großteil meiner Konflikte war Mediation nicht das passende Instrument – und eine gemeinsame Beratung kam nicht in Frage. Gegensätzlichkeiten müssen zuweilen auch ausgefochten werden, manchmal im Namen der selbstverwirklichenden Persönlichkeitsentwicklung, manchmal, um als Paar zu reifen und manchmal, um sich das Paarsein abzustreifen.
4. Das EU-Mediation-Paradox
Die EU peilte 2008 an, dass im Jahre 2018 50% aller EU-Zivilstreitigkeiten mediativ bearbeitet werden würden und machte sich daran, dieses Ziel umzusetzen. 2018 erreichten sie knapp 1%.
Das sog. EU-Mediations-Paradox wurde selbst von der EU so genannt. Als im Jahre 2018 und damit 10 Jahre nach Inkrafttreten der EU-Mediationsrichtlinie 2008/52 deutlich geworden war, dass deren Ziele schlichtweg und klar nicht erreicht werden konnten (hier nachzulesen).
2008 wurde angepeilt, dass in der Hälfte der Zivilstreitigkeiten (=50%), die in der EU auftreten würden, eine Mediation durchgeführt werden würde. Erreicht wurde im Jahre 2018, dass gerade einmal in 1% der zivilrechtlichen Streitfälle eine Mediation anberaumt wurde. Und diese Zahlen waren das Ergebnis aller finanzieller und politischer Förderung sowie der Unterstützungsbemühungen der nationalen Justizbehörden der EU-Länder. Richtlinien, Fördergelder und öffentliche Fürsprache -, sie schafften 1%. 1% – das ist sehr viel weniger als die angepeilten 50%.
Mediator*innen sind verständlicherweise zunächst geneigt, die Rahmenbedingungen dieser Fakten anzuzweifeln, sodann die offensichtlichen Schlussfolgerungen zu bestreiten und mögen dann immer noch nicht die Hoffnung fahren lassen, dass die Mediation „eigentlich doch das Mittel der aufgeklärten Wahl einer zivilen, partizipativen und eigenverantwortlich orientierten Gesellschaft“ sei oder zumindest sein müsse. Es wird einfach unbeirrt weiter behauptet, dass die klaren Vorteile von Mediation belegt seien – und immer wieder gegenüber dem gerichtlichen Verfahren, das eher in die Nähe einer Schlächterei gerückt werden müsste, bei dem das Schlachtermesser entweder nicht scharf ist oder aber monatelang verschwunden sei und deshalb nix vorangehen würde. Belustigende Anekdoten und Horrorgeschichten von Gerichtsverfahren als Begleitmusik, in denen die Konfliktparteien wahlweise die Getriebenen und hinters Licht Geführten sind, sprich OPFER oder aber die verbohrten, getriebenen TÄTER, die das System bis zum Äußersten ausreizen und letzten Endes doch nicht glücklich würden. Diese Geschichten gibt es zuhauf; vor allem von enttäuschten Anwält*innen, die das Geschäft kennen und immer wieder unerträgliche Fälle erlebt hätten. Sie wollen die RETTENDEN sein, um – wahlweise – die Opfer- oder Täterrolle von einst ablegen zu können. Aber leider, leider gibt es nicht genügend Mediationswillige.
Und von dieser mediatorischen Warte aus muss zumindest konstatiert werden, dass das dritte, das sog. EU-Mediations-Paradox einfach auch bestehen bleibt: Hier erscheint es unerklärlich, weshalb diese Menschen, die doch zur Eigenverantwortlichkeit streben, nicht dieses Verfahren in und für ihre Konflikte nutzen. (Es sei denn, die sind doch anders als Mediator*innen sie sich vorstellen…aber bedenke dass es das 3. Mediationsparadox gibt…)
Wie Studien und Forschungsberichte aufgezeigt haben, hatte sich allein in Italien Mediation tendenziell entwickelt. Hintergrund dieser Ausnahme war das italienische Opt-out-Modell zum Verfahrensstart einer Mediation. Das Opt-out-Modell führt dazu, dass das erste Treffen der Beteiligten bei Gericht bereits im Rahmen einer Mediation stattfindet. Die Beteiligten können sich sodann dazu entscheiden, dieses Verfahren nicht weiter fortzuführen und den Rechtsweg zu gehen. Für die restlichen EU Mitgliedsstaaten gilt das Opt-in-Modell: Beide Konfliktparteien müssen sich vorab dazu bereit erklären, ein Mediationsverfahren zu beginnen. Oftmals entscheiden sich die Konfliktbeteiligten aber dagegen – trotz aller staatlichen Fürsprache, kolportierten Vorteile und gerichtlicher Nachteile.
Trotz Förderung und massiver Unterstützung aus Politik mit Gesetzen, Vorgaben, Finanzen und derlei mehr, vor allem aber der mediatorischen Gewissheit, dass es einfach das bessere, billigere und förderlichere Verfahren sei: keine nennenswerte Nachfrage durch all die Konfliktparteien, inklusive all der Mediator*innen, die ja auch in ganz normale Konfliktparteien in ganz normalen Konflikten sind. Zuweilen.
5. Die Vertraulichkeitsparadoxien der Mediation
Die Vertraulichkeitsanforderung des neutralen Dritten diktiert Sozialdruck. Vom Konfliktpartner verklagt zu werden, ist ebenso einfach, wie diesen seinerseits zu verklagen. Aber sich gemeinsam dem Mediationsverfahren zu unterwerfen, ist enorm voraussetzungsreich – und überhaupt keine Selbstverständlichkeit. Deshalb ist Mediation eine Rarität im Meer der Konflikte.
Die Vertraulichkeit des Mediationsverfahrens gilt unter Mediator*innen als ein essentielles Prinzip der Mediation. Essentiell in der Weise, dass diese Vertraulichkeit Mediation ermöglichen würde. Je mehr Vertraulichkeit, so die mediatorische Denke, desto mehr und bessere Mediation. Zugleich aber ist die Vertraulichkeit kein konstitutives Prinzip! Mediation könnte auch öffentlich stattfinden. Konfliktparteien könnten sich auf dem Marktplatz für jeden hör- und sichtbar vermitteln lassen. Eine erste, kleine, kaum nennenswerte Paradoxie beim Anblick des Vertraulichkeitsprinzips.
Bleiben wir bei den Grundannahmen der Mediation: Strikte Vertraulichkeit öffnet die Konfliktparteien und ermöglicht ihnen, sich ehrlich und vorbehaltlos zu begegnen, seine wahren Interessen zu erkunden und preiszugeben. Als wären Offenheit und Ehrlichkeit statische, monolithische Phänomene, die eindeutig und hell ausgeleuchtet werden könnten in der Klarheitsarena der Mediation. Diese Klarheit führt nicht nur aus der Konflikteskalation heraus, sondern auch zur Auflösung der Widersprüche, menschliche Interessen und Bedürfnisse werden in Win-win-Situationen überführt, wo macht- und gewaltfrei die gemeinsame Lösung gefunden und kommuniziert werden könne. Wir sind ja alle eine Menschheit! Letztlich, so das ignorante Diktum der Mediation, wollen wir doch all dasselbe und sind miteinander in unserem Menschsein verbunden: Wenn diese Annahme schon nicht autoritär-diktierend ist, dann zumindest ignorierend.
Dabei ist die menschliche Wahrnehmung wie Erinnerung höchst dynamisch-widersprüchlich, temporär verzerrend, höchst fehleranfällig, vor allem aber kein mechanisch und damit wiederholbarer Vorgang, eher schon komplex bis chaotisch. In (Konflikt-)Beziehungen gibt es keine objektiv-begreifbare Klarheit, die es zu erkunden gilt, sondern nur stete Aushandlungsprozesse, bei der die Idee von Klarheit hilft, nicht in bodenlose Verzweiflung zu fallen.
So wie der Geist flach ist (Nick Chater „The Mind ist flat“, Interview Link) und das Selbst, eine Seele oder das (Selbst-)Bewusstsein eine mentale Illusion darstellt, die uns Identität ermöglichen und versprechen, so muss mit Darwin dennoch klar sein, dass es nix Derartiges geben könne, (dazu Harari, Homo Deus, München 2017, S. 144 ff.). Wir haben es hier wie dort mit permanenten Aushandlungs- und Aktualisierungsprozessen zu tun, die wie das gesprochene Wort sogleich verfliegen, aber eben auch nicht unterlassen werden könnten.
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Doch zurück zur Paradoxie von Vertrauen.
Vertrauen ist das eine, Vertraulichkeit das andere. Während Vertrauen sich auf die Person bezieht, bezieht sich Vertraulichkeit auf den Kommunikationsraum der Beteiligten. Um ein gewisses Maß an Vertrauen kommt man in einer Mediation nicht umhin.
Vertrauen selbst ist ein paradoxer Begriff, wie Luhmann bereits verdeutlicht hat. Vertrauen beschreibt die Erwartung bestimmter Ereignisse oder ihr Ausbleiben, was nüchtern betrachtet riskant ist. Vertrauen ist – mit Luhmanns Worten – die sichere Erwartung von Ereignissen bei faktischer Unsicherheit. Oder anders: Wer (gefühlig) vertraut, muss kognitiv ausblenden. Wer sich sicher fühlen will, muss Unsicherheitsgewissheiten ins Reich des Unfühlbaren und Unsichtbaren verweisen.
Vertrauen ist im Kontext von Mediationen allenfalls ein Kolleratalschaden des Verfahrens, der durch kognitive und emotionale Ignoranz der jeweiligen Personen ermöglicht wird.
Nun zur Paradoxie von Vertraulichkeit:
Vertraulichkeit betrifft den Kommunikationsrahmen der Konfliktparteien. Dürfen die Parteien davon ausgehen, dass der andere nicht ohne Strafe/Schaden Inhalte aus dem Verfahren an Dritte preisgibt. Dieser Berechtigungsannahme bildet den Ausgangspunkt, nun Klarheit und Offenheit in und durch die Mediation anzusteuern. Denn das ist es, was geschieht: Der Dritte und damit konfliktextern wird Klarheit und Offenheit angesteuert.
Entscheidend für die Paradoxie ist, dass zwar das Maß an Vertraulichkeit im Namen der Offenheit und Klarheit akzeptiert wird, in Praxis damit aber auch die Mediation als ein sozial abgeschottetes Verfahren konzipiert wird. Was in der Mediation herausgefunden wird, bleibt dort. Oder ehrlicher und offener: Was in der Mediation ausgehandelt wird, bleibt geheim.
Ihr Reiz besteht auch darin, dass im Wege der Mediation konfliktlösende Vereinbarungen vertraulich bleiben – und allenfalls der Prüfung der Mediationsperson unterzogen werden könnten. Indem die Mediation Geheimnisse als sozial akzeptiert deklariert, gerät die Mediation mitunter zu einem sozialen Wahrheitsgrab. Der Bostoner Kirchenskandal ist eben erst in den Nuller Jahren an die Öffentlichkeit gekommen, nachdem u.a. viele dutzend Mediationen dazu geführt hatten, dass niemand die Systematik und das gesellschaftliche Ausmaß der Verbrechen in den Jahrzehnten zuvor gesehen hat und (weil es Mediationsgespräche waren!) sehen konnte.
Die Vertraulichkeit einer Mediation schafft wohl bei Einigungswilligen eine gewisse Risikobereitschaft zur Offenheit, die eine Beziehungsklärung auf Augenhöhe eben erfordert; für andere begründet ebenjene Vertraulichkeit die Möglichkeit, Inhalte und Tatsachen abzuschotten und vor Behörden und betroffenen Dritten geheim zu halten, die aber ein soziales Interesse an diesen Informationen haben.
Doch selbst Konfliktparteien haben nicht immer und schon gar kein absolutes Interesse an absoluter Vertraulichkeit, was zum Glück auch das Mediationsgesetz anerkennt.
6. Die Paradoxien der Sichtbarkeit von Mediator*innen
Mediator*innen intervenieren bei Autonomen und werben mit Neutralität
Eine ganz praktische Paradoxie, wenn man so will, offenbart sich im zwiegespaltenen Unternehmertum von Mediatoren: Wie lässt sich für eine Tätigkeit werben, deren Leistungskern soziale Neutralität, Zurückhaltung, ja geradezu mit sozialer Wirkungslosigkeit im Namen der Eigenverantwortlichkeit der Konfliktparteien beschrieben werden könnte, sie das aber gerade nicht sein sollte?
Aber nein, wirksam sollen und wollen Mediatoren schon sein, nur nicht verantwortlich für die Konfliktinhalte und -forführungswege. Die Verfahrensidee betont ja, dass die Konfliktparteien ganz eigenverantwortlich diesen Weg wählen (sollen!), was sie diese Verfahrenspraxis konkret aber nicht tun.
Doch allmählich ändern sich die Einstellungen hier unter Mediator*innen: Sie zeigen sich, ihre Bedarfe und ihre Angebote. Mediation ist eine Dienstleistung, die beworben und erklärt werden will, weil sie schlicht
- kontraintuitiv ist,
- erklärungsbedürftig und
- unbekannt.
Zu 1. – Mediation ist kontraintuitiv
Kein Mensch kommt einfach so auf die Idee, eine Mediation zu machen, wenn er im Konflikt ist. Im Konflikt, das ist die vorrangige Erkenntnis der Glaslschen Eskalationsbeschreibung, suchen Menschen intuitiv danach, Macht, Einfluss und Wirksamkeit zu sichern und zu steigern, sie suchen zu überzeugen, sich zu bestätigen, schmieden Koalitionen oder die Bande zu den Mächtigen. Mediation hingegen folgt einer sozialen Logik, deren Zielerreichung, das Mediationsverfahren, höchst eigenwilligen, merkwürdigen und komplexen Voraussetzungen zugrundeliegen.
Zu 2. – Mediation ist erklärungsbedürftig
Was Mediation von anderen Konfliktverfahren mit Drittbeteiligten unterscheidet, ist schnell und griffig erklärt – und stellt die ganze Abschreckungswucht dar: Mediatoren haben keine Entscheidungsbefugnis, bringen keine Lösung und achten lediglich darauf, dass die Konfliktparteien direkt miteinander kommunizieren. Aber das ist schwer genug.
All das will man nicht, ist man im Konflikt. Man will – viel mehr! – nichts mit dem anderen zu tun haben. Der Konflikt soll geklärt sein – und dann kann man auch gern wieder was machen. Und wenn der Dritte, der sich Mediator nennt, aber noch keiner in diesem Konflikt ist, auch noch betont, dass er keine Lösung bringt, besteht kaum noch der Nerv, das zu verstehen, was der Dritte konkret machen will oder kann. Mediatoren enttäuschen regelmäßig die Frage nach ihrer Leistungstätigkeit und bleiben einer verständlichen Erklärung schuldig, wenn sie in Abgrenzung zur Richterperson antworten, dass sie keine Lösung bringen.
(BTW: natürlich bringen sie die Lösung! Und die Konfliktparteien setzen diese Lösung in der Mediation um und schauen, wo sie damit hingelangen. So ist das mit Lösungen, die man sich zu eigen machen muss! So ist das auch mit einem richterlichen Urteil.)
Zu 3. – Mediation ist unbekannt
Fragen Sie einfach mal Mediatoren nach den drei – für die Konfliktparteien – bedeutsamsten Leistungstätigkeiten, für die Mediatoren bezahlt werden (sollten).
7. Das grundlegende Mediationsparadox und seine Auflösung (Heck):
Das Paradox, das sich auflösend hält
Der Soziologe Justus Heck hat 2020 seine Dissertation vorgelegt, die 2022 unter dem Titel „Das Mediationsparadox“ veröffentlicht wurde, in der er der Vermittlung im Streit nachgeht. Völlig zu recht verortet Heck das Grundproblem (Grundparadox!) der Mediation keineswegs allein im Spannungsfeld von mediatorischer Intervention und der Selbstbestimmung der Parteien, sondern in dem verengten Verständnis, dass Konfliktvermittlung nur in Mediationen stattfinde.
Heck geht zutreffend davon aus, dass die Vermittlungsbedarfe in Konflikten enorm sind – und keineswegs allein in regulären Mediationen befriedigt werden. Ganz im Gegenteil: In Mediationen am Geringsten. Viel intensiver werden die konfliktprovozierten Vermittlungsbedarfe großteils durch das Konfliktsystem selbst bedient oder auch vor Gericht. Hier wie dort lassen sich mit einem weiten Begriffsverständnis von Vermittlung Tätigkeiten identifizieren, die den ausgemachten Vermittlungsbedarf adressieren und abarbeiten. Mediation ist in dieser Leseart eine verfahrensförmige (und -hörige) Form der Vermittlung. Aus diesem Grunde blieben die Fallzahlen hinter den Erwartungen zurück, die ja getragen sind von der Annahme, Vermittlung finde ausschließlich in Mediationen statt.
Dabei muss sich diese Annahme keineswegs nur mit der Tatsache geringer Nachfrage herumschlagen, sondern auch die Begeisterung und Hoffnungstiefe seitens der Mediationsszene erklären. Aber das ist ein anderes Thema.
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