Kein Grund zur Klage?!
Erklärungsansätze für den Rückgang der Klageeingänge bei deutschen Zivilgerichten
in: Spektrum der Mediation, 88/2022, S. 56-58.
Seit gut 25 Jahren gehen die Klageeingänge bei den deutschen Zivilgerichten kontinuierlich und extrem deutlich zurück. Die hier vorgestellten Thesen dazu leisten einen Beitrag zum Verständnis von Mediation, die zeitgleich als Alternative zum Gericht gepriesen und gesetzlich gefördert wurde, obschon sie realiter weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben ist.
(Auszug)
An der Martin-Luther-Universität in Halle fand am 8. Dezember 2015 ein Symposium zum Thema Klageeingänge an den deutschen Zivilgerichten statt. Hintergrund war die Erkenntnis, dass bei den Amtsgerichten und Landgerichten ein kontinuierlicher Rückgang der Eingangszahlen von erheblichem Ausmaß zu verzeichnen war. Die fachliche Diskussion zu diesem Phänomen war erst kurz zuvor angestoßen worden.
Bedeutung erlangte dieser Rückgang vor allem vor dem historischen Hintergrund, mit dem die Fachexpert*innen durchweg die Jahre zuvor konfrontiert waren. Das zivilrechtliche Prozessaufkommen war seit den 1970ern bis hinein in die 1990er Jahre diametral anders gelagert: Diskussionswürdig war der verfassungsrechtlich gebotene Zugang zum Recht und den Gerichten infolge von Verstopfung und Überlastung ebenjener Gerichte. Lösungsansätze waren die Ausweitung der Justiz und deren Finanzierbarkeit. Kein Zufall, sondern direkte Konsequenz war das Aufblühen der Diskussion um die „Alternativen zur Justiz“ und die Rezeption der amerikanischen Mediation. Generell standen in der rechts- und gesellschaftspolitischen „Alternativen“-Debatte die gerichtsfernen Streitbeilegungsmethoden im Zeichen der Justiz-Entlastung, sollten Filter- und Siebefunktionen entfalten, damit die Justiz ihr gerechtes Werk verrichten könne. Diese Epoche deutscher Klagewirklichkeit, der sich auch gesetzlich entgegengestemmt wurde, hat mit dem Beginn des neuen Jahrtausends ihr Ende gefunden.
Man muss sich das einmal deutlich vor Augen führen: Von 1997 bis 2017 sind bundesweit die Klageeingänge bei den Amtsgerichten durchschnittlich um 44,4% zurückgegangen und bei den Landgerichten durchschnittlich um 27,2%, wobei der Rückgang hier in den Kammern für Handelssachen stärker ausfiel als bei den sonstigen Zivilkammern. Das hat dramatische Auswirkungen im Hinblick auf einen bedarfsgerechten Justizapparat, sondern auch für die gesellschaftspolitische Fragestellung, worin Gründe für derartige Schwankungen liegen. Das wird derzeit in einem umfangreichen Forschungsauftrag untersucht...
Erklärungsansatz Nr. 1 – Demographie
Erklärungsansatz Nr. 2 – Entwicklungen der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes
Erklärungsansatz Nr. 3 – Geringes Vertrauen in die Justiz
Erklärungsansatz Nr. 4 – Kosten des Gerichtsweges
Erklärungsansatz Nr. 5 – Rechtsschutzversicherungen
Erklärungsansatz Nr. 6 – Alternativen zur Justiz
Erklärungsansatz Nr. 7 – Verändertes Verhalten der wirtschaftlichen Akteure gegenüber Kunden und Konsumenten
Erklärungsansatz Nr. 8 – Verändertes Verhalten der Rechtsanwaltschaft
Erklärungsansatz Nr. 9 – verändertes Streitverhalten der Bevölkerung
ebenfalls im Heft enthalten ist ein transkribiertes Interview zum Thema mit Prof. Dr. Caroline Meller-Hannich, S. 59-61.
In Deutschland wird seit zwei Jahrzehnten dramatisch weniger geklagt. In den Jahren von 1997 bis 2017 sind bei den Amtsgerichten um bis zu 44 % weniger Klagen eingegangen und bei den Landgerichten um 27 %. Das ist schon ein sagenhafter Rückgang. Und bislang fehlen gesicherte Erklärungen dafür. Das Bundesministerium für Justiz (BMJ) hat im September 2020 ein Forschungsprojekt in Auftrag gegeben, das die Hallenser Professor*innen Dr. Caroline Meller-Hannich und Dr. Armin Höland federführend mit der ehemaligen Präsidentin des Kammergerichts Berlin, Dr. Monika Nöhre, und der InterVal GmbH durchführen. Das Projekt ist auf dreißig Monate angelegt. Untersucht werden vor allen zwei Fragen:
- Welche Einflussfaktoren innerhalb und außerhalb der Justiz haben diese Klageeingangszahlen?
- Und welche Erwartungen haben die Rechtssuchenden oder nicht mehr Rechtssuchenden an die Justiz? Das Projekt ist also auch ein gewisser Prüfstand für die Justizverfassung in Deutschland.
Hinterlasse einen Kommentar