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Die Strategische Mediation. Plädoyer für einen überfälligen Perspektivwechsel.
Teil 1 – Mit der Zukunft rechnen, statt sich nur eine zu wünschen.
Veröffentlicht in Spektrum der Mediation, Ausgabe 70, Dezember 2017, S. 18-22.
Den vollständigen Text haben wir im Blog (2019) veröffentlicht. Hier…
Auszüge aus dem Text:
Statt den Kuchen zu vergrößern, geht es der Mediation bisher vor allem um ein harmonisches Backen.
„…erstaunlich, aber es kommt noch schlimmer für MediatorInnen: Angetreten im Selbstverständnis einer dringend benötigten Alternative zu gerichtlichen Verfahren, wird nicht nur festgestellt (im Evaluationsbericht), dass Konfliktparteien kaum Mediation beanspruchen, sondern dass seit gut zehn Jahren auch noch die Klageeingangszahlen bei Gerichten stark rückläufig sind. Gerade die Konfliktparteien, die immer weniger vor Gericht erscheinen, tauchen nicht bei denen auf, die sich als passende Alternative angeboten haben! Also am Bedarf liegt es nicht, wohl aber am Produkt.“
„…Der Schluss ist wohl zulässig: Die Mediationsbewegung ist in den letzten zehn, zwanzig Jahren für sich gewachsen, hat AnhängerInnen in gehöriger Anzahl gefunden, die eine Ausbildung gemacht und sich in Verbänden organisiert haben, nicht aber KundInnen. Hier ist der Zugang, das Schloss oder der Schlüssel einfach noch nicht gefunden worden…“
„…Doch nach dem Untergang des sowjetischen Kommunismus und der Ostblockstaaten blieb nicht viel mehr übrig, als zu konstatieren, dass die Welt eben vuka ist. Militärisch, politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich…, kein Gedanke blieb mehr, was er vielleicht bis dato mal war – eine emotionale Stütze, vielleicht seelischer Halt oder Grundlage einer irgendwie gearteten, nicht selten ideologisch gefärbter Gewissheit. Die Welt tickte vollkommen anders – und mittlerweile vollständig digital…“
„…Für die Mediation, die ein ernsthaftes Angebot für die individuellen, sozialen und gesellschaftlichen Konfliktlagen in der Welt sein möchte, wird es deshalb weiterhin nicht an Gelegenheiten mangeln, sich zu bewähren, ganz im Gegenteil. Doch offensichtlich muss sie ihr Selbstverständnis, ihre Strategie und ihr Potenzial ebenso vorbehaltlos auf den Prüfstand stellen…“
„…Doch was bedeutet es konkret, mit vukaesken Umständen umgehen zu müssen? …Volatilität fordert verstärkt Antizipationsprozesse, Dinge heute zu tun, damit sie morgen bei Bedarf zur Hand sind...“
„…Ungewissheit bedeutet, dass selbst in alltäglichen Fragen niemand mehr den Überblick hat. Die Kultur des Zweifels hat sich aus der Wissenschaftswelt ausgebreitet in die Alltagswelt. Moderne Wissenschaft trat mit dem revolutionären Anspruch auf, nichts zu wissen und alles in Zweifel zu ziehen, nachvollziehbare Beweise zu erheben und sich bewusst auf Zwischenergebnisse zu verlassen – bis ein Gegenbeweis erfolgt ist. Heute gibt es keinen Bereich, der nicht diesem Element wissenschaftlicher Kultur unterliegt. Das ruft auch Unsicherheit hervor. Und es erscheint paradox, dass heutzutage allerorts auf Wissenschaftlichkeit Wert gelegt wird, gerade in der Annahme, Sicherheit und Seriosität zu erlangen. Dabei kann die Geschichte der Wissenschaft, vor allem eines zeigen: Notwendig ist souveräne Umgang mit Ungewissheit. Sie gilt es auszuhalten und ihr Annahmen stets aufs Neue zu testen. Das geht nur mit einer konstruktiven Fehlerkultur, die nicht zu Katastrophen, sondern zu Korrekturen führt. Fehler kommt vom Fehlenden, nicht vom Falschen. Genau dafür kann Mediation Raum bieten, aber er muss ein Raum des mutigen Testens, Experimentierens sein und deutlich machen, dass wir an der Vorläufigkeit arbeiten, nicht an der Endgültigkeit. Konfliktlösungen können nicht mehr den großen Wurf vorbereiten oder dem Konflikt „auf den Grund gehen“…“
„…Die Welt ist zu komplex, verhält sich also weder berechenbar noch vorhersagbar. Sie ist der Anlass, weshalb Mediation sinnvoll ist – die gleichberechtigte Bearbeitung des Konflikts im gemeinsamen Kontext, so dass die vielschichtigen Perspektiven und Andersartigkeiten der Beteiligten Gehör und Zugang in die gemeinsame Konfliktbearbeitung finden.
„…Ambiguität beschreibt die Widersprüchlichkeit der Welt. Informationen – auch wahre – sind stets mehrdeutig und widersprüchlich in sich. Mediationen bieten die Möglichkeit, diese Mehrdeutig- und Widersprüchlichkeiten kommunikativ zu tolerieren und ihre Bedeutungen für die strategische Konfliktbearbeitung zu nutzen. Ambiguität ermöglicht und erzwingt Perspektivenwechsel.“
„…Die (Über-?)Betonung psychologischer Lösungsangebote im Geiste der Humanistischen Psychologie erscheint zunehmend einseitig belastend. Als Lösungsinstrument des 20. Jahrhunderts für Probleme, die aus den Konventionen des 19. Jahrhunderts herrühren, ist die Humanistische Psychologie allein nicht in der Lage, die gesellschaftlichen Problem- und Konfliktstellungen im 21. Jahrhunderts anzugehen.“
Daraus folgen zwei Thesen:
These 1 – Die Mediation bietet die Möglichkeit, explizit mit der (vorgestellten) Zukunft Auswege aus dem aktuellen Konflikt zu erarbeiten. Hierfür kann sie die Erfahrungen der systemischen Organisationsberatung aufgreifen und für den Mediationsprozess verarbeiten.
These 2 – Das Lösungsangebot der Mediation, das „Heil“ für sich und die Konfliktparteien in der Emotionsarbeit zu finden, vernachlässigt den zweiten großen Ideenstrang der Mediationsentwicklung, der sich buchstäblich im Konzept der „Kuchenvergrößerung“ manifestiert. Die mit den Schlagworten „Entdeckung der Zukunft“ und „Entwicklungen im Frühkapitalismus“ umrissene geistesgeschichtliche Tradition gilt es, für die Mediation aufzuarbeiten und fruchtbar zu machen. (dazu siehe Teil 2 des Aufsatzes)
„…Noch nie ist jemand in den Krieg oder vor Gericht gezogen, um die Vergangenheit zu ändern. Es geht „immer irgendwie“ um die Zukunft…Es macht strukturellkeinenUnterschied für den Zeitbezug des Konfliktmanagementansatzes, ob Richter nun wegen einer vergangenen Beleidigung verurteilen oder es in der Mediation zu einer Entschuldigung kommt. In beiden wurde ausgeglichen und zukunftsorientiert agiert…Was Mediation indes eröffnen kann, ein Gericht aber nie, ist, dass die Konfliktentscheidung selbst mit der Zukunft rechnet, dass die Entscheidung auf Füße gestellt wird, die bereits einen Abdruck in der (vorgestellten) Zukunft hinterlassen haben.
Was kennzeichnet jedoch dieses strategische Element? Strategie befasst sich explizit mit zukunftsorientierten, nicht selten überlebensrelevanten Fragestellungen eines sozialen Systems. Strategie reizt zu Überlegungen, welche Entwicklung wünschenswert und welche Zukunft erstrebenswert ist. Dabei gilt es – in einem ersten Schritt – zu beachten, nicht einfach die tagesaktuellen Wünsche an die Zukunft zu benennen, sondern ein „Bild aus der Zukunft“ heraus entstehen zu lassen.
„Wir wollten doch den Kuchen vergrößern, und uns nicht nur gut beim Backen unterhalten!…Was mit der geradewegs kapitalistischen Idee der Kuchenvergrößerung geschehen ist und weshalb die Mediation davon profitieren kann, sich auf diesen geistesgeschichtlichen Strang zu besinnen, wird im zweiten Teil dieses Beitrags behandelt.“
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