Wie das Recht auch der Mediation dient

25 Grundlagen von Mediation (13)

Dieser dreizehnte Beitrag zu den Grundlagen von Mediation beschäftigt sich mit den Funktionen des Rechts. Im Grunde eine urjuristische Materie, doch, so will ich meinen, für das Verständnis von Mediation ebenso wichtig. Dabei möchte ich grundsätzlich auf das Verhältnis von Recht und Mediation eingehen, und mich weniger dazu äußern, was das konkrete materielle Recht innerhalb eines Mediationsprozesses für Funktionen übernimmt oder übernehmen kann.

I. Einleitung

Wer heutzutage von Mediation spricht, tut gut daran, den Kontext einer verrechtlichten Gesellschaft zu beachten.

Das entspricht nicht nur den Ansprüchen des Rechts (und des Staates), denen die Bürger und Unternehmen ausgesetzt sind, sondern auch den Absichten und Zielen der Mediation selbst.

Denn Mediation ist nicht einfach eine Alternative zum Recht, sondern dessen Konsequenz. Das möchte ich im Folgenden erläutern und anhand der Funktionen des Rechts, wie sie heute in der (post-)modernen Gesellschaft wirken, verdeutlichen. Dabei wird ein wichtiger Aspekt von Mediation deutlich werden, nämlich ihr Konsequenzcharakter in einer verrechtlichten, auf der Privatautonomie basierenden Gesellschaft.

Dabei bleiben bestimmte Nebenwirkungen außerhalb der Betrachtung, paradoxe Wirkungen und Konsequenzen, die niemand beabsichtigte, die aber in einer komplexen Welt irgendwo irgendwann zutage treten werden, wenn ein derart intensives Instrument wie die Mediation verstärkt gefördert und genutzt wird.

II. Recht als Teil sozialer Normen erfüllen bestimmte Funktionen

Rechtssätze sind Spielarten sozialer Normen.

Es gibt weitere Formen sozialer Normen, etwa Sitten und Bräuche, auch religiöse und ethische bzw. moralische Normen. Diese finden nicht (mehr) stets Eingang in unser Recht. Seit der „Aufklärung“ bemühen wir uns großteils, Recht und Moral zu trennen. Die Details tun hier aber nichts weiter zur Sache beitragen.

Das Besondere am Recht ist nicht so sehr sein abstrakt-genereller Regelungscharakter (Gesetze gelten für viele Adressaten, also generell, und für eine weniger genau beschriebene Situation, also abstrakt). Recht kann auch konkret-individuell gesetzt werden (Polizist: Halt stehen bleiben!“ oder Lehrer: „Du erhältst die Note 5 für Deine Leistung.“). Das Besondere liegt im Gegensatz zu anderen sozialen Normen in seinem „Willen zur umfassenden Systematik und Widerspruchsfreiheit“.

Das sagt aber noch nichts über die Funktionen, also die Aufgaben und Stoßrichtungen rechtlicher Regelungen. Im Rechtsstaat bzw. der verrechtlichten Gesellschaft regelt das Recht das Verhältnis Staat – Bürger sowie das Verhältnis der Bürger untereinander, wobei es auch regelt, dass die Bürger einen Spielraum haben, selbst Regelungen zu treffen (Privatautonomie, Vertragsfreiheit).

III. Funktionen des Rechts

Recht funktioniert.

Die Geschichte des Rechts lässt diesen Schluss zumindest als nicht ganz abwegig vermuten. Damit jedoch Recht funktioniert, bedarf es klarer Rollenverteilungen, die ein sog. Über- und Unterordnungsverhältnis, ein Subordinationsverhältnis kreieren. Personen in einer Rolle setzen Recht (durch), Personen (die die gleichen sein können!) in anderen Rollen unterwerfen sich dem gesetzten Recht. Konkret heißt das: auch der Bundestagsabgeordnete, der Staatsanwalt, der Polizist, die Richterin und die Kanzlerin müssen sich an die Gesetze halten. Hinter dem rechts(durch)setzenden Staat steht die legitimierende und rechtssetzende Gemeinschaft mündiger Bürger. Jedenfalls im Rechtsstaat, im Staat der der Idee des Rechts folgt. Und diese Idee ist der Kern der Rechtsfunktionen.

Im Folgenden zähle ich einzelne Aspekte rechtlicher Funktionen auf, die oftmals lediglich einen winzigen Perspektivenwechsel erfordern, ohne prinzipiell unterschiedliche Funktionen zu benennen. Daran wird implizit die Vielschichtigkeit und Komplexität von Recht deutlich. So jedenfalls die Absicht

Mediation ist mit diesem Aspekten konfrontiert, ihre Rollenträger (Mediator, Medianten) ihnen unterworfen. Mediation ist keine Alternative zum Recht, sondern nutzt eine vom Recht gewährte Möglichkeit der Konfliktbearbeitung. Das soll mit diesem Beitrag deutlich werden.

1. Recht ordnet.

Recht ordnet Zusammenleben und verhindert Chaos in (größer werdenden) Großgesellschaften. Gerade das verschriftlichte Recht ermöglicht Gesellschaften, weiter zu wachsen und die soziale Ordnung aufrecht zu erhalten. Die Sprache sagt es schon.

Recht und Gesetz werden im Sozialverbund notwendig, wenn die Sozialnormen, die ihre Wirksamkeit aus einem persönlichen Kontakt der Beteiligten ziehen, nicht mehr ausreichen, um ein geregeltes Zusammenleben zu gewährleisten.

Nach allem, was wir von frühstaatlichen Gesellschaften kennen (und heute in großen Organisationen und Unternehmen auch feststellen können), ist Dunbar’s Zahl (= ca. 150 Menschen) eine gute Richtgröße hierfür.

2. Recht schützt.

Recht schützt und befreit den Einzelnen. Freiheit durch Ordnung, ließe sich aus dieser Perspektive sagen. Das ist die Kehrseite der Ordnungsfunktion. Indem Recht anordnet, beengt es zwar einerseits (s. o.), befreit und schützt aber auch vor Übergriffen anderer, die gleichfalls eingeengt werden. Weder der Staat noch ein Dritter darf in den dadurch bereitgestellten Freiheitsraum eingreifen. Der Einzelne ist befreit, sich eigenständig und allein vor Übergriffen schützen zu müssen.

1215 ordnete Kaiser Friedrich II. in seinem großen Gesetzeswerk Liber Augustalis erstmals die Notwehrregelung an. Jeder Untertan konnte sich eines Angriffs erwehren, indem er den Arm ausstreckt und sich auf die ordnende Kraft des Kaisers berief. („Laß‘ mich in Ruhe, sonst hole ich meinen großen Bruder!“…ist vielleicht ein Überbleibsel, dem wir heute mitunter auf Schul- und Hinterhöfen begegnen können… Manchmal wirkt es sogar.

Damit ist ein wichtiger Aspekt von Recht angesprochen, der für die Mediation besonders bedeutsam ist: seine gewaltverhindernde Funktion.

3. Recht verhindert Gewalt.

Konfliktbezogen ist Recht ein Gewaltverhinderungsprogramm durch Gewaltmonopolisierung.

Gerichtsverfahren z.B. sind, wenn privatrechtliche Ansprüche nicht befriedigt werden, zuvorderst Gewaltverhinderungsverfahren. Hier wird der Streit in einem geordneten Rechtsgang gewaltlos ausgetragen und verbindlich entschieden. Für das BVerfG ist diese Gewaltverhinderungsfunktion von Gerichtsverfahren das zentrale rechtsstaatliche Moment des Rechts. Dadurch ist (einseitig-) private Gewaltanwendung zur Konfliktbehandlung unterbunden, Kampf und Krieg innerhalb der Gesellschaft beendet.

Hinsichtlich der Befriedungs-und Beruhigungswirkung des Rechts sollten jedoch die Kausalitäten nicht überschätzt werden. Es gehörte mehr dazu, als Recht zu schaffen, um innergesellschaftliche Befriedung zu bewirken. Ob wir nun den wirtschaftlichen Handel, die Verstädterung der Gesellschaft oder die Verbesserung der Hygienestandards generell betrachten; vieles spricht dafür, dass wir es mit einem multikausalen, sich gegenseitig bewirkenden Entwicklungsprozess zu tun haben. Recht ist hier oftmals auch oder mehr Ausdruck des gesellschaftlichen Wandels, als dessen Ursache.

4. Recht steuert.

Recht steuert, indem es zu Verhalten anhält oder verbietet.

Mit entsprechender Dauer schafft geltendes und durchgesetztes Recht aus (bloß abgerungenem) Rechtsgehorsam Rechtsüberzeugung, zumindest aber Rechtsbewusstsein. Aus Rechtsunterworfenen können Rechtsüberzeugte werden. In diesem Sinne verwirklicht Recht eine (soziale) Integrationsfunktion. Es prägt die Adressaten. Der „Absender“ erzieht mit Recht – was für eine passende Doppeldeutigkeit im Ausdruck! Es erzieht auch den, der sich nicht an die Grenzen halten will. Denn auch im Missachten steckt die Be-Achtung.

Recht steuert nicht nur, sondern wird auch gesteuert. Recht steuert nach, ist entwicklungsfähig, wenn auch von „Natur aus“ konservativ. Jedenfalls ändert späteres Recht existierendes ab und erklärt es zu überkommenem. Recht erhält hier eine „Veränderungs- bzw. Verbesserungsfunktion“. So wie sozialer Wandel Recht beeinflusst, beeinflusst Recht sozialen Wandel.

Wie weit der Gedanke heute noch trägt, dass mit (konditionalem) Recht und Gesetz die soziale Gesellschaft zielgenau gesteuert wird, würde an dieser Stelle zu weit führen. Es bestehen aber erhebliche Zweifel an einer zielgenauen Steuerungsfähigkeit durch Recht.

5. Recht begrenzt sich selbst.

Wenn allerdings Recht den Adressaten steuert, prägt und erzieht, steuert, prägt und erzieht es auch sich selbst bzw. den Rechtssetzer. Anders ausgedrückt: Recht verhindert nicht unbedingt heute ein „hü!“, aber ganz sicher Morgen ein „hott!“. Alles andere wäre Willkür – und nicht Recht. Das ist durchaus eine moderne Idee des Rechts. Recht zeigt nicht nur Leitlinien dem Adressaten auf, sondern auch die Begrenzungen des Absenders.

Jede Ermächtigungsgrundlage (des Rechtssetzers) ist in diesem Sinne zugleich auch Anspruchsgrundlage (des Rechtsunterworfenen gegenüber dem Rechtssetzer).

Oder anders gewendet:

Die Machtperspektive sagt, das „Recht auf das Recht“, sei das Recht des Stärkeren. Der „Sieger“ bestimme dabei, was zukünftig gelte.

Die Rechtsstaatsperspektive hingegen gibt vor, jenes „Recht auf das Recht“ bedinge eine „Pflicht zur Begrenzung von Rechten“, eben zum Schutze all derer Schwächeren.

Klingt theoretisch so kompliziert, wie es dann praktisch tatsächlich auch ist. Denn die Machtperspektive liegt uns einfach näher, da sind wir geübter. Aber sie erfasst die Funktionen des modernen (rechtsstaatlich geschaffenen) Rechts nur unzureichend.

Jedenfalls bietet Recht für alle Beteiligten eröffnende und ermöglichende, aber auch begrenzende und einengende Wirkungen. Diese vielschichtigen Aspekte von Recht spiegeln sich in der Mediation wider.

6. Recht erleichtert.

Recht sichert – in der verrechtlichten Gesellschaft berechtigte(!) – Erwartungen.

Recht wirkt hier als Verhaltenssicherung für eine soziale Ordnung. Es hilft Menschen und Organisationen, insbesondere Miteinander-Fremde in Kontakt und Handel zu treten.

Diese Funktion hat Recht mit sonstigen sozialen Normen gemeinsam. Recht schafft Erwartungssicherheit und beseitigt Verhaltensunsicherheit – jedenfalls bis zu einem gewissen Grad. Schelsky erkennt diese Funktion „bis in die Frühzeiten der menschlichen Kultur und insbesondere heute noch in der Analyse primitiver Gesellschaften“ als entscheidende Leitidee des Rechts. Recht ermöglicht damit Planung, schließt Möglichkeiten aus und rückt andere stärker in den eigenen Fokus. Ausgleich und Dauerhaftigkeit menschlicher Beziehungsgestaltung sind grundlegende Gedanken, denen Recht dient und Wirklichkeit verleihen möchte. Das hängt eng mit dem Recht als Gewaltverhinderungsprogramm zusammen. Insoweit schafft Recht Sicherheit im Konflikt, sozialisiert und diszipliniert.

7. Recht richtet.

Indem Recht eine Ordnung vorsieht, ist es gezwungen, sie auch „einzurichten“ und andere Vorstellungen „gerade zu richten“. Recht wählt in seiner binären Codierung von recht/unrecht stets nur eine Möglichkeit aus. Im binären Code von recht/unrecht kann es also nur ein Richtig geben.

Unwirksames und nicht richtendes Recht wäre wirkungs- und damit bedeutungs-, also funktionslos. Richten ist deshalb die „elementarste Funktion des Rechts“, gleichwohl es lediglich seine Konsequenz und ihm nachgeschaltet ist. Oder knapp: Recht ohne Rechtsdurchsetzung ist nahezu undenkbar. Im Richten wird ausgeglichen und befreit, geprägt und erzogen und letztlich neu geordnet.

Deshalb ist es kein Zufall, dass sich im historischen Kampf der gesellschaftlichen Gruppierungen, der Sieger, die Staatsgewalt, das Recht zueigen gemacht hat – und die Unterworfenen, die „Verlierer“, die Kirche, die Städte, Bünde, Universitäten etc. „einverleibt“, also rechtlich integriert hat. Denn letztlich muss hinter dem Recht, will es wirksames Recht sein, die Fähigkeit stehen, es notfalls gewaltsam durchzusetzen.

IV. Bedeutung für die Mediation

Mediation findet nicht in einem rechtsfreien Raum statt. Das gilt vor allem für eine rechtsorientierte und verrechtlichte Gesellschaft wie die unsrige. Dabei möchte ich gar nicht auf das Mediationsgesetz anspielen, das der Ausübung von Mediation ausdrücklich einen rechtlichen Rahmen verleiht. Das hat vielleicht noch die geringste Bedeutung für Mediationsprozesse.

Die Bedeutung des Rechts, des staatlichen Rechts, das zur Durchsetzung tatsächlich in der Lage ist, ist vor allem in seiner gewaltverhindernden Funktion zu sehen. Selbst in Gesellschaften, in denen der Zugang zum Recht weit problematischer ist als in Deutschland und Mediation sich vor allem deswegen entwickelt hat (v.a. USA), gilt die gewaltverhindernde Ausstrahlungswirkung des (staatlichen) Rechts. Gewalt und gewalttätige Kämpfe sind heute im Großen und Ganzen kein anerkannter Modus der Konfliktbearbeitung mehr, und wo doch, muss er deutlich vernehmbar gerechtfertigt werden. Das ist vor allem eine Konsequenz des durchgesetzten Rechtsprogramms.

Dem konkreten materiellen Recht kommt innerhalb des Mediationsprozesses noch wichtige Bedeutung zu. Das hat mit dem Wesen des Rechts zu tun. Erhaben formuliert ist das Recht die Idee der Gerechtigkeit – und die ist für alle gut. Tatsächlich erwachsen daraus aber verschiedene Perspektiven:

– Recht ist einerseits wie eine Leitlinie, ein Leitseil, das zur Gerechtigkeit, zum Glück oder zumindest zur guten Lösung führt. Tu, was geschrieben steht, dann machste nichts falsch. Konfliktparteien kommen danach auf die Idee, dass das Recht die Lösung für ihren Konflikt parat hält. Und ihre Anwälte und Richter unterstützen diese Idee – oder begründen diese erst. So kann man ins Gesetz schauen, und wenn dort nichts drin steht, in die bisher erlassenen Urteile… und wenn dort auch noch keine Lösung enthalten ist, dann schaut man in die Kommentare zu den Gesetzen – irgendwo muss doch ein Rechtsgelehrter geschrieben haben, was Recht und richtig ist. Blöd ist daran nur, dass die gegnerische Seite genau dasselbe tut – mit anderen Vorzeichen und Leseergebnissen.

– Andererseits bildet das Recht einen Rahmen, innerhalb dessen sich frei entfaltet werden kann. Was Bürger, auch konfligierende, innerhalb dieses Rahmens kreieren und vereinbaren, begründet ebenso (privat vereinbartes) Recht, begründet und gestaltet das Rechtsverhältnis der Beteiligten aus. Recht ermöglicht – innerhalb des bestehenden Rechts – Beziehungsarbeit, die auch hätte anders durchgeführt werden können und dennoch als Privatrecht Geltung beansprucht. Das ist der rechtlich vorgesehene Raum der Möglichkeiten, den Mediation besetzt.

III. Konflikte sind Unsicherheitssituationen.

Und in Unsicherheitssituationen fällt es uns Menschen nun einmal schwer, unsere Orientierungspunkte wie das Leitseil Recht loszulassen, weil die Hoffnung besteht, dass es uns zu einer gerechten Lösung führen wird.

Aber das tut es nicht – denn es ist vor allem seine Aufgabe, Gewalt im Namen der Gesamtgesellschaft zu verhindern. Das geschieht mitunter durch eine gewisse Zermürbungstaktik („Legitimation durch Verfahren“), jedenfalls aber mit Erfolg.

Für die Konfliktbearbeitung, die zu einer individuellen und konkreten Lösung führen soll, ist Recht nur ein unzureichendes, zuweilen anreicherndes Instrument. Doch unterstützt es derartige Suchen, z.B. in einer Mediation, dass diese in einer gewaltfreien Atmosphäre stattfinden können.

Das ist – so will ich meinen – etwas, wofür die Mediation dankbar sein kann.