9 Stufen bis zum Abgrund oder Konflikte als Verbindungslinie
25 Grundlagen von Mediation (15)
In diesem Blogbeitrag erfährst Du, wie ein Streit zu einem ausgewachsenen Konflikt eskalieren kann und die Beteiligten gemeinsam in den Abgrund gleiten. Es handelt sich um einen Klassiker im Konfliktmanagement von Glasl.
9-Phasen-Modell der Konflikteskalation
Konfliktbeteiligten scheint es nicht selten, als „geschehe“ ihnen der Konflikt.
Scheinbar ohne ihr Zutun wächst ihnen der Konflikt über den Kopf, worüber auch nicht selten Betroffene und Beobachter staunen. Der Konflikt verselbständigt sich, entwickelt eine Eigendynamik, die unaufhaltsam scheint. Friedrich Glasl hat in seinem Standardwerk Konfliktmanagement ein 9-Phasenmodell für diese Eskalationsentwicklung formuliert, das mittlerweile als Klassiker bezeichnet werden kann.
Es gibt sicherlich weitere und vor allem praktikablere Modelle der Konflikteskalation, z.B. das vierstufiges Modell von Heinz Messmer, das die Eskalation der Kommunikation fokussiert. Im Folgenden möchte ich mich aber auf das Modell von Glasl beschränken.
EBENE I (WIN-WIN)
Verhärtungen (1. Phase)
In Phase eins gebiert sich der Konflikt zwischen Zweien, ein kommunikativer Gegensatz ist vernehmbar. Indem Meinungen sich zu Standpunkten verhärten und intellektueller Austausch im Wortsinne unmöglich wird, manifestiert sich ihr Konflikt. Soweit Fronten aufgebaut wurden, könnten diese mit Argumenten im Rahmen einer Diskussionen wieder abgebaut werden.
Im stetigen Verlauf der Verhärtungen jedoch, die keine Auflösung finden, kommen erste Zweifel auf, ob der andere den eigenen guten Willen anerkennt und zu würdigen vermag, ob er überhaupt zuhört. Die eigene Festigkeit des Standpunkts entspricht dabei dem Grad des Vorwurfs, dass der Gegner sich von seinem Standpunkt nicht abbringen ließe. Emotionale Verwicklungen schleichen sich ein und legen den Grundstein für den Irrgarten der Konfliktkommunikation.
Polarisation: Debatte und Polemik (2. Phase)
Die Beteiligten polarisieren sich, nehmen Abstand voneinander und generieren ihren Gegensatz. Sie werden dadurch erstmals zu Parteien. Während ihre Ansichten und Verhaltensweisen deutlich aufeinander prallen, entfernen sie sich als Mitmenschen voneinander. Ihre Verbundenheit als Menschen beginnt sie zu stören.
Von einer Loslösung will aber noch niemand etwas wissen. Vielmehr dient der Gegenpart dazu, die Grenzen zur Absicherung der eigenen Meinung zu verdeutlichen. Verstärkte selektive Wahrnehmung hilft, den Konflikt nicht als Erschütterung der eigenen Person und Position zu sehen. Die Situation und die Gegenpartei wird zunehmend in schwarz-weiß gesehen. Gedanken und Gefühle werden stärker in (Ab-)Wertungen getränkt. Derart grobschlächtige Differenzierungen unterstützen dabei, die eigene „Klarheit“ und emotionale Sicherheit beizubehalten oder zu erlangen.
Befangenheit als eine frühe Stufe der Angst prägt zunehmend den Beziehungskontakt. Die Parteien prognostizieren ein hohes emotionales Risiko im Falle eines weiteren unbefangenen, offenen Umgangs miteinander, z.B. „Muss ich mir das geben?! Das tut mir doch nicht gut! Habe ich das nötig?!…“
Kommunikativer Rückzug, zuweilen in übertriebener Redseligkeit bei inhaltlicher Belanglosigkeit, dient dazu, Nachteile für die soziale Stellung, Macht oder Ansehen bei Dritten zu verhindern. Was sozial erwartet wird, ist noch leistbar. Oftmals wird darauf vertraut, dass die Gegenseite noch genügend Interesse aufbringt, um sich wieder „vernünftig“ zu verständigen. Ein eigenes ausreichendes Maß dieses Willens wird dabei nicht bezweifelt. Soweit ein Mangel wahrgenommen wird, wird er als Reaktion auf des Gegners Gefährlichkeit gerechtfertigt. Die Beziehung ist von Vorbehalten geprägt.
In der Sache verschärft sich die Diskussion – oder wird ganz bleiben gelassen, je nach Kontext und Grad der sozialen Verbundenheit (Ehe, Arbeitsverhältnis etc.). Zunehmend wird sich aber gegenüber Dritten versichert, nicht ganz falsch zu liegen. Das ist selten Ausdruck einer ernst gemeinten sachlichen Prüfung des eigenen Standpunktes, als vielmehr die Vergewisserung, dass andere „die Sache auch so sehen“. Die Kontaktaufnahme zu Dritten dient hier allerdings noch nicht der Koalitionsbildung. Gleichwohl können bereits hier erste „Kontrollmanöver“ sozusagen als „Vorbereitung zur Truppensammlung“ gestartet werden.
Taten statt Worte (3. Phase)
Wächst das Misstrauen, wird das Verhalten des anderen zunehmend negativer interpretiert. Worte wirken nicht mehr wegweisend. Es muss gehandelt werden, um den Anderen zu lenken. Gebiete müssen abgesteckt werden, sei es durch Entscheidungen oder durch sonstige Vollendung von Tatsachen. Das ist die Denke. Und das Vorgehen.
Das Fatale daran ist, dass durch mangelnde Worte die eigenen Taten gerade nicht eindeutiger werden, sondern den Deutungsraum direkt vergrößern. Das Gegenüber erhält somit erleichterten Zugang zum Spielraum fehlerhafter Interpretationen. Absicht und Wirkung fallen hier – wie generell in Konfliktsituationen – deutlich auseinander. Aber Gespräche der Klärung werden zielgenau vermieden. Das ist das, was Karl-Heinz Risto treffend den „autistischen Zirkelprozess“ nennt.
Im Verstummen der Gegner erreicht der Konflikt eine neue Qualität. Die Beteiligten entledigen sich erstmals ihres menschlichsten Werkzeugs: der Sprache. Da eine klare und deutliche Sprache Ausdruck innerer Klarheit ist, diese hier aber gemieden wird, sind Missverständnisse vorprogrammiert: Von nun an übernimmt der Autopilot.
Gerade das, was hier not täte, wird gemieden: Nicht mehr Kommunikation, sondern Metakommunikation, die konstruktive Feedbackschlaufen einzieht.
EBENE II (WIN-LOSE)
Imagesorgen und Koalitionsbildungen (4. Phase)
Da die Taten nicht bewirken, was sie sollen, zweifeln die Konfliktparteien noch stärker – und aus ihrer Sicht konsequenterweise – an einer einvernehmlichen Lösung. Der andere scheint uneinsichtig und ohne jeden guten Willen, der doch von eigener Seite so „deutlich geäußert“ wurde. Allseits wird das Lied der Enttäuschung angestimmt. Nun geraten verstärkt Dritte ins Blickfeld. Sie werden vom Konflikt betroffen und aus ihrer vermeintlichen Beobachterhaltung weggezogen. Sie erweitern die Wirkungsarena und öffnen so seiner „Strudelwirkung“ die Tore.
Zwar sollen Dritte zunächst „unvoreingenommen ihre Meinung sagen“, letztlich aber doch den eigenen Standpunkt stärken. Hier zeigt sich, wer für (spätere) Koalitionen taugt. Unvoreingenommen können Dritte durch Konfliktbeteiligte kaum befragt werden.
Die Orientierung nach außen und die Suche nach Verbündeten stellt die Frucht eines Wahrnehmungs- und Deutungsprozesses dar, der zumeist kaum merklich einsetzte: Eine Art neuen Erinnerns. Mögen wir uns auch häufig vorstellen, dass Erinnerung wie das Abrufen einer Datei von einer Festplatte erfolgt, so trifft dies doch nicht zu. Erinnerung spiegelt immer Gegenwart, ist ein sich aktualisierender Prozess, der nichts mit festen Inhalten zu tun hat. Inhalte des Erinnerns sind zeit- und kontextbezogen, weshalb es möglich ist, im Nachgang nach „Anzeichen“ und „Hinweisen“ zu suchen, die die Bedrohung und das Unheil angekündigten. Derlei „Übersehen“ scheint nunmehr eine Art Vertrauensvorschuss an die Gegenseite gewesen zu sein, ein Zeichen der eigenen Gutmütigkeit oder Dummheit, jedenfalls ein Beweis des eigenen Opferstatus oder aber der Verschlagenheit und Gerissenheit des Gegners (Täterstatus). Wahlweise nimmt man beides zusammen.
Das neue Erinnern führt inhaltlich zu Klischees und Stereotypen. Der Gegner „erhält“ ein vollständiges und lückenloses, aber schlichtes Konzept seiner Person, was weniger mit Fakten, dafür aber viel mit einseitiger Interpretation zu tun hat.
Entscheidend ist, dass von nun an Feindbilder existieren. Mit ihnen kann völlig anders umgegangen werden.
Gesichtsverlust (5. Phase)
Feindbilder führen zu einem Gefühl der Bedrohung. Beiderseits. Bedroht ist vor allem das soziale Ansehen, ein „Gesichtsverlust“ wird befürchtet. Deshalb ist das soziale Ansehen auf dieser Stufe bevorzugtes Angriffsziel und Schutzobjekt zugleich. Zentrale Emotionen der Konfliktparteien in diesem Stadium sind nahezu alle Schattierungen von Angst. Generell sind unsere Gefühle an der destruktiven Konfliktentfaltung direkt beteiligt. Doch die Angst vor sozialer Ausgrenzung und sozialer Vernichtung bestimmt wie kaum eine andere Emotion das Denken und Handeln im Konflikt. Angst ist der Nährboden weiterer Konflikteskalation und auf dieser Stufe der Schlüssel zum Verständnis. Bezieht sich die Angst auf soziale Ausgrenzungs- und Vernichtungsszenarien, führt sie zu psychologischen Katastrophensituationen, die uns Krankheit und Tod bringen können („Voodoo“- u. „Mobbing“-Situationen).
Indem dem Gegner die „Maske vom Gesicht“ gerissen und dessen wahre Identität und Verschlagenheit entlarvt und der Welt gezeigt wird, kann der eigene Anteil mehr als gering erscheinen. Der Fokus ist die verdorbene Persönlichkeit des Anderen. Dritte müssen vor dieser geschützt werden. Öffentliche Demaskierung dient als präventive Nothilfe. Genial konsequent und doch zumeist konsequent daneben.
Jedenfalls treten die ursprünglichen Konfliktthemen zunehmend in den Hintergrund. Sie dienen ohnehin nur noch dazu, die Persönlichkeit des Gegners einzuschätzen („Personifizierung“). Vorschläge und Argumente des Gegners sind nicht mehr inakzeptabel, sondern die ganze Person ist es. Nicht die Äußerung ist falsch und unannehmbar, sondern der Äußernde.
Drohungen (6. Phase)
Wurde die gemeinsame Geschichte erst einmal umgedeutet und in neuem Licht betrachtet, sind rücksichtslose Attacken auch vor dem eigenen Wertesystem gerechtfertigt und legal. Der Konflikt erscheint nunmehr als Notwehrlage. Rücksichtslosigkeit ist nicht nur erlaubt, sondern erforderlich und geboten. Bemerkenswert ist, dass die künftige Rücksichtslosigkeit aus der umfänglichen Rücksicht resultiert. Die Rücksicht eröffnet zwar neue Einsichten, schließt aber vieles, was bis dahin Geltung beanspruchen durfte, aus. Daraus entwickeln sich selbst erfüllende Prophezeiungen (self-fulfilling prophecies). Sie beleben sich vor allem in Drohungen, die nun direkt die Gegner treffen.
Die Anschuldigungskommunikation schlägt in eine Drohkommunikation um. Die innere Bedrohung weicht der eigenen Bedrohlichkeit, Angriff ist die beste Verteidigung. So der Irrglaube an dieser Stelle. Dabei ist wenig dümmer als Drohungen. Sie deckeln nur selten die Eskalation und vermögen kaum die Kontrolle wieder zu erlangen. Einzig ihr Verführungscharakter, die Gesamtsituation wieder unter Kontrolle zu bringen, lässt sie zum Mittel der Wahl werden.
Tatsächlich aber bringen sie allein den Drohenden in Bedrängnis: Er muss anschließend – und zumeist widerwillig – den Glaubwürdigkeitsbeweis erbringen und das angekündigte Übel durchsetzen. Höchst selten tritt jedoch die Wirkung ein, die beabsichtigt wurde. Anders als bei Warnungen gibt der Drohende ja vor, den Eintritt des Übels in der Hand zu halten – und einzusetzen, „wenn der andere nicht…“! Das ist das fatale Moment einer Drohung. Sie ist selbstbindend und damit das ganze Gegenteil der geäußerten Absicht.
EBENE III (LOSE-LOSE)
Begrenzte Vergeltungsschläge (7. Phase)
Diese Notwendigkeit bei einer Drohung, die Ankündigung wahr werden zu lassen, führt zur Gewalt. Auch Gewalt ist in Konflikten stets Reaktion. Dadurch wächst die Drohkommunikation zur Machtkommunikation. Und das bedeutet Machtdemonstration.
Dabei wirkt die Drohung strafend und soll dies auch, aber bei Leibe nicht vernichtend. Darum geht es noch nicht, sondern zunächst geht es um Erziehung! Das strafende Moment kommt als Besserungsversuch daher – in dreierlei Hinsicht: zunächst wird der Andere dafür bestraft, dass er die Drohung nicht beachtet hat, sodann dafür, dass er den Konflikt insgesamt verschuldet hat und, damit zusammenhängend, dafür, dass er Schuld daran trägt, dass der Strafende „selbst so weit gehen musste…und Gewalt nötig“ wurde.
Im Selbstbild ist die Gewalt freilich nur Konsequenz – wie schon gesagt, aber erforderlich, um die eigene Konsistenz und Gradlinigkeit zu belegen. Genau dies beendet die Eskalation gerade nicht, sondern treibt sie regelmäßig voran. Mediation ist hier nahezu überfordert.
Zersplitterung (8. Phase)
Einmal der Logik der Gewalt folgend, ist durch die Tatsache, dass der Gegner selbst auf Gewalt nicht wie gewünscht reagiert, das Tor zu dessen Vernichtung und endgültigen Beseitigung geöffnet. Eine Grenze bildet zunächst nur der eigene (soziale) Überlebenswille. Dennoch, Ziel der Angriffe sind die Zentren des Gegners: Dessen (soziale) Lebensbasis wird angegriffen, z.B. durch Kappen der Versorgungspässe (Isolierung).
Totale Vernichtung: Gemeinsam in den Abgrund (9. Phase)
Letztlich aber ist das eigene Überleben nicht mehr maßgebend. Die Vernichtung des Gegners ist Ziel und sei es um den Preis des eigenen Lebens. Die gegenseitige und doch gemeinsame, also totale Vernichtung kündigt sich an („Patendlösung“ i.S.v. Watzlawick).
Und hier zeigt sich, dass auch die destruktive Konfliktentwicklung das Gemeinsame nicht unbeachtet lässt, sondern geradezu betont. Auch stetig tiefere Verwicklung bringt letztlich Auflösung in Form der gemeinsamen Vernichtung.
Das Eskalationsmodell von Glasl zeigt, dass der Konflikt nicht einfach geschieht, sondern dass die Beteiligten ihn prozessieren: Phase für Phase „entscheiden“ sie sich für das gemeinsame Abschreiten des Weges in den Abgrund. Die beschriebene Konflikteskalation entbehrt nicht einer gewissen Ironie, da die Beteiligten sich doch so unterschiedlich glaubten und doch zusammen den Weg in den gemeinsamen Abgrund gestalten.
Fragment Nr. 51 von Heraklit
„Sie verstehen nicht, wie es auseinander getragen mit sich selbst im Sinn zusammen geht: gegenstrebige Vereinigung wie die des Bogens und der Leier.“
Und dennoch gilt auch, dass es Zeiten (und Gegner!) gibt, in denen der Weg in den Abgrund der einzig richtige scheint – und nur die Hoffnung diesen nicht bis zum Schluss gehen zu müssen, weil man zusammen doch Mächtiger ist in Gegnerschaft. Aber vielleicht ist das nur Ideologie, ein frommer Wunsch.
Manchmal bietet Machthandeln nicht die schlechteste Alternative.
Für die Konfliktbearbeitung kann das vorgestellte Modell folgende Anhaltspunkte bieten:
Zu Ebene II: Für mich ausschlaggebend in jedem Fall die Erinnerung, die Angst und die Maske.
Vielen Dank, Kerstin, für Deinen Hinweis. Wofür ist das für Dich ausschlaggebend?